Ein Ex-Hippie, der sich bei Shakespeare auskennt

Martina Pfeiffer

Das Projekt Wortwörtliche Begegnungen und sein Auftakt mit Michael Lederer

Jedes Jahr wird der Öffentlichkeit die Statis­tik Zugezogener in Berlin vorgelegt. Was diese Menschen aus dem In- und Ausland zu sagen, was sie der Metropole zu geben haben, darüber schweigen die Zahlen. Die Neuberlinerinnen und -berliner, die diese Stadt zu ihrer Wahlheimat gemacht haben: Das sind auch Vertreter der Berufsgruppen der Bildenden und Darstellenden Kunst, Musik, Fotografie, Literatur sowie Regisseure, Kuratoren und Galeristen. Mit dieser Zielgruppe will der Kulturring näher ins Gespräch kommen. Er strebt an, sie und ihre Arbeit öffentlich sichtbar zu machen. Unser Motto: Gesprächsfreude grenzenlos. (www.kulturring.berlin/projekte/begegnungen-wort-woertlich)

Der Projekt-Frischling tut seit Februar 2024 seine ersten Schritte. Street Artist Sébastien Nayener alias Seboh Creation bringt Da Vinci und Hokusai ebenso ins Spiel wie die Zeitgenossen Spoare153 und Hopare. Der Franzose hat die Spuren seines graphic style auf dem Teufelsberg, und nicht nur da, hinterlassen. Die gebürtige Heidelbergerin Lotte Günther setzt auf dem Gebiet der Farbfeldmalerei Akzente jenseits des Gang und Gäbe und ist gerade aus ihrer Künstlerresidenz in Down Under zurück. 2024 wird auch die Malerin Dagna Gmitrovicz aus Polen dabei sein, den Baum identifiziert sie als unser lebendiges Gegenüber, denn sie ist – man höre und staune – ausgebildete Waldtherapeutin. Gesprächspartner 2024 sind außerdem: Markus Feiler aus Rotenburg, dessen Konzeptkunst vielleicht dazu anstiftet, die laufende Ausstellung „Zerreißprobe“ der Neuen Nationalgarie mit der Sektion „concept art“ wahrzunehmen; der Schriftsteller Axel Lawaczeck aus Göttingen, der seit einigen Jahren nicht mehr zum Bergvolk im Prenzlauer Berg gehört, und der sich mit dem Umzug in die Uckermark einen neuen Namen zugelegt hat: „Axel von Friedenfelde“. Vielversprechend auch der Kontakt mit der gebürtigen Sizilianerin Valentina Murabito, deren experimentelle Analogfotografie ein beachtliches Medienecho hervorruft. Ihre Arbeiten sind ab 1. November 2024 in einer Einzelausstellung in der traditionsreichen Berliner Galerie ­Kornfeld zu sehen. Den Kick-Off hatte das Projekt mit Michael Lederer, dem US-amerikanischen Autor, Gründer und künstlerischen Leiter des Dubrovnik Shakespeare Festivals. Das Interview mit ihm ist im Projektbereich des Kulturrings das erste, das in englischer Sprache geführt und zweisprachig, im Original und in deutscher Übersetzung, online präsentiert wird. Der Kulturschaffende, Schauspieler und Autor lebt seit 1998 in Berlin. Michael Lederer wurde 1956 in Princeton, New Jersey, geboren. Seine Großeltern mütterlicherseits waren Deutsche, beide aus Stettin, seine Verwandten väterlicherseits Juden aus Zagreb, Jugoslawien, dem heutigen Kroatien. Als 19-Jähriger entschied Michael, eingenommen von der Idee eines gewaltfreien Miteinanders, zwei Jahre lang im Tipi-Zelt der Hippie-Gemeinschaft „The Land“ zu leben, in den Santa Cruz Bergen Kaliforniens. Später studierte er Theaterwissenschaften an der Binghamton University, New York. 2009 gründet Michael Lederer das Dubrovnik Shakespeare Festival (DSF) und wird in den Folgejahren dessen Künstlerischer Leiter. Der Podcast-Begleittext anlässlich des Shakespeare-Jubiläums 2024 hat für die Entscheidung des Shakespeare-Kenners, an unserem Projekt teilzunehmen, eine wesentliche Rolle gespielt: „Jahrtausendgenie und Zeitgenosse ‚for all time‘ – William Shakespeare wird 460“ Verfasserin: Martina Pfeiffer (www.kulturring.berlin/podcasts).

 

 

Michael Lederer, beim mehrstündigen persönlichen Kennenlernen auf die elisabethanische Dreh- und Angelperson des Dubrovnik-Festivals angesprochen:
Ihr Herz hat vermutlich schon immer für William Shakespeare geschlagen. 2009 gründeten Sie das Dubrovnik Shakespeare Festival (DSF). Shakespeare in Dubrovnik, das hört sich für mich abenteuerlich an. In den Folgejahren waren Sie dort der Künstlerische Leiter. des Festivals. Shakespeares 460. Geburtstag ist am 23. April 2024. Der Dichter fasziniert uns noch immer. Wie kommt es, dass er nach wie vor eine feste Größe ist?
M.L.: Wenn man sich vorstellt, wie die Finger eines Safeknackers jeden Klick auf den Ziffern spüren, um den Tresor zu öffnen, dann denke ich an Will Shakespeare. Er hatte seine Finger, seinen Verstand und sein Herz auf dem menschlichen Dasein, und ebenso in den natürlichen und übernatürlichen Welten, die uns umgeben. Ich gäbe alles für eine gemeinsame 24-Stunden-Reise mit Shakespeare, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass wir sehr weit kämen. Ich stelle mir vor, wie er innehält, sich jede kleine Einzelheit auf dem Weg ansieht, und auch das jeweilige Gegenstück. Das Yin und Yang des Ganzen. Er war der schärfste Beobachter, den ich kenne, und wir haben das große Glück, dass er das, was er sah, auch ausdrücken konnte.

Im weiteren Interviewverlauf geht folgende Frage an Michael, die Stadt betreffend, in der er seit nunmehr über zwei Jahrzehnten lebt (nachdem er im Gespräch äußerte, dass er an anderen Orten nicht dauerhaft bleiben wollte, denn er brauche mehr Koffein):
Und Berlin, hat es genug von diesem Koffein für Sie?
M.L.: Berlin bietet für mich das perfekte Tempo. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Es ist weltweit eine wichtige Metropole, aber die Gebäude überragen einen nicht übermäßig und man kann immer noch den Himmel sehen. Ich nutze das Netzwerk der Botschaftseinrichtungen hier – da ist immer etwas und jemand Interessantes – um einen voranzubringen. Meine Arbeit mit dem English Theatre Berlin hat sich gelohnt […] Die Tatsache, dass [diese Stadt] so Multikulti ist, bedeutet, dass wir uns als Teil von etwas Größerem fühlen. Und wie ich der Deutschen Welle gesagt habe, fasziniert mich die Stadt als Schriftsteller. In der Zeitspanne von nur einem Leben hat sich Berlin von einer liberalen Weimarer Republik in Richtung Nationalsozialismus entwickelt, zu einer Stadt, die durch eine Mauer geteilt ist, dann der Zusammenbruch dieser Mauer und hin zur Integration in eine Europäische Union, die noch im Werden begriffen ist. Als Sohn eines Historikers gefällt es mir ganz besonders, inmitten der geschichtlichen Ereignisse zu stehen. Im Auge des Hurrikans zu sein, ist natürlich noch etwas anderes- So oder so, die Aussicht von hier aus ist schön. Immer an vorderster Front. (Interviewerin: Martina Pfeiffer)

Wünschen wir dem Projekt, dass es mit derselben Frische und Verve weitergeht, wie es angefangen hat. Mögen die wortwörtlichen Begegnungen auch 2025 mit grenzenloser Gesprächsfreude erfolgen.

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