Harvey Keitel führt in dem Film „Smoke“ von 1995 einen Tabakladen. Jeden Morgen über viele Jahre, Punkt acht Uhr, fotografiert er die Kreuzung vor seinem Geschäft. Eine Kamera, ein Stativ und die Ecke 3rd Street/7th Avenue in Brooklyn. Eine Fotosammlung mit viertausend Bildern entsteht.
Fensterblicke
Jürgen KellerJeden Morgen, Punkt neun Uhr, werden die Rollläden hochgezogen an der Ecke Senefelderstraße/Hiddenseer Straße im Prenzlauer Berg. Der Medienpoint Pankow öffnet.
Die Bäume vor den großen Fenstern des Eckladens spenden Schatten im Sommer und die Hitze braucht Zeit bis hinter die Scheiben. Seit zweiundzwanzig Jahren, jeden Tag, der gleiche Ablauf. Die Fensterbänke verlieren ihr Grau und die Farben der Bücher in den Bücherkisten locken die Menschen wie Fluglöcher die Pollenbringer. Regnet es, verschwinden die Kisten hinter den Scheiben und warten auf ihren nächsten Auftritt.
Stehen sie wieder vor den Fenstern, greifen die Menschen hinein, blättern in den Seiten, legen das Gelesene wieder zurück oder nehmen es mit, in Erwartung von Mehr. Man kann ihnen zusehen dabei. Hinter den Scheiben ist es dunkler als draußen.
Gibt es keine Fotos, ist es die Erinnerung, die die Jahre trägt. Auf der anderen Straßenseite in der Senefelder, gegenüber, entsteht jetzt ein Haus. In einer Häuserlücke vom letzten Krieg. All die Jahre vor dem Neubau ging der Blick hindurch auf das Haus in der Parallelstraße. Im Schein der Sonne leuchtete der weiße Putz. Es hatte schon eine gewisse Weite bis dahin. Das Grün unter den Fenstern im Erdgeschoß hinterließ die Anmutung kleiner, schmaler Gärten. Und was war da, auf der großen freien Fläche bis dahin? Waren es Garagen, eine Event-Firma, die Hardware für Konzerte verlieh oder stand da nur eine Mauer, hinter der Bäume wuchsen? Die Erinnerungen gehen auseinander.
In den Sommermonaten vor der Pandemie hörte man zuerst und sah dann ein Motorradgespann die Straße entlangfahren. Es war eine sehr alte Maschine. Aber alles an ihr glänzte. Die Kleidung des Fahrers gehörte in eine andere Zeit. Im Beiwagen saß ein Schäferhund, der eine Motorradbrille trug.
Auch hörte man in diesen Zeiten von weitem Musikanten, die dann mitten auf der Straße an den Fenstern vorbei liefen. Klarinette, Ziehharmonika und Gitarre waren ihre Instrumente. Einer von ihnen hatte einen Becher in der Hand und war besonders freundlich.
Geblieben sind die Kinder. Die Kleinen, die im Mehrpersönchenwagen noch geschoben werden und die Großen, die in Zweierreihe mit verpackten und geschulterten Musikinstrumenten die Straße einmal hoch und später wieder runter laufen. Zu jeder Jahreszeit. Und nicht zu vergessen, die, die vor den Fenstern stehen bleiben und den Schritt durch die Tür wagen. Vielleicht waren sie auch schon früher hier, mit Mama oder Papa, als sie noch kleiner waren.
Es hängt von der Jahreszeit ab und auch von der Stunde des Tages, ob man vor den Fenstern die Gesichter der Besucher erkennt, die schon einmal zwischen den Regalen standen. Manchmal sind es Scherenschnitte, die sich ruckartig hin und her zu bewegen scheinen. Dann ist es kalt oder Wind und Regen treiben die Menschen vor sich her. Hält die Sonne die Tage länger in ihren Armen, bleibt auch mehr Zeit zum Verweilen. Die Blicke fallen auf die Bücherkisten und die Menschen bleiben stehen. Und manche von ihnen werden dann zu Besuchern.
Neuntausend Bücher, Filme, Schallplatten und CDs warten darauf, erkannt und in die Welt hinausgetragen zu werden. Die Geschichten all der Menschen, die ihnen dabei helfen vor die Tür zu finden, bleiben unbekannt. Obwohl! Der Herr mit dem großen Hut und dem Stapel Bücher unter'm Arm … war das nicht der alte Major a. D. vom See im Norden Brandenburgs?
Es regnet. Die Blätter halten sich nicht mehr lange an den Ästen und die Kisten mit den Büchern sind von den Fensterbänken verschwunden. In einer der Kisten liegt obenauf ein Band mit Geschichten von Paul Auster.
Die Bäume schauen durch die Scheiben auf ihre Vettern und die Bücher in den Regalen sinnen ob ihrer Herkunft. Ratternd rollen die Rollläden runter.