Rufe nach einer neuen Aufklärung | Dichtkunst im Doppel: Eco-Poetry

Martina Pfeiffer

Sich die Abhängigkeit von den natürlichen Lebensgrundlagen verantwortungsvoll  klarzumachen, um diese Bewusstseinslage geht es der Eco-Poetry. Rufe nach einer neuen Aufklärung werden laut. Mit sprachlichen Mitteln vermag Umweltlyrik das Bild des geschundenen Blauen Planeten auszumalen, wie er in nicht allzuferner Zeit sein dürfte, wenn wir nach einem dumpfen „Weiter so“ leben – nämlich in zahlreichen Regionen unbewohnbar. Schon heute gibt es unumkehrbare Zerstörungen. Um die Schäden einzudämmen, wird es einen geistigen Quantensprung brauchen, gefolgt von entschiedenem Handeln ohne Wenn und Aber. In Anbetracht der dramatischen Rückkoppelungseffekte auf Mensch und Ökosystem erscheinen international verbindliche Aktionszusagen dringlicher denn je.  Das Projekt „Dichtkunst mal…“ in Kooperation mit dem Haus für Poesie www.kulturring.projekte steht aktuell unter dem Motto: Eco-Poetry. ­Samuel Kramer und Sascha Kokot sprechen im Interview zum Thema. Gedicht-Podcasts: www.kulturring.berlin/podcasts.

Die Schreckensszenarien zum Klimawandel: Das Kind ist schon „in den Brunnen gefallen“, so der Schriftsteller Jonathan Franzen. Für den Philosophen Richard David Precht ist es bereits „Fünf nach Zwölf“. Zwar sei die Menschheit nicht zu retten, doch hoffe er wenigstens auf die Regenerationsfähigkeit von Tieren und Pflanzen. Die prophezeite Selbstabschaffung des Menschen – Lässt sich dem etwas entgegenhalten?
Samuel: Ich glaube, Bilder wie das „Kind im Brunnen“ werden der Komplexität des Problems nicht gerecht. Es gibt Zusammenhänge, die am Klimawandel einfach sind. Wir müssen einfach aufhören, fossile Energieträger zu verbrennen, so schnell wie möglich. Die Folgen der schon verursachten Klimaveränderungen sind nicht einfach. Es gibt da kein bloßes Entweder-Oder, nicht die Entscheidung zwischen Erlösung und Katastrophe. Es gibt Regionen, die jetzt schon tödlich betroffen sind, es gibt Anpassungsmöglichkeiten, vor allem im Rahmen der 1,5- und 2-Grad-Ziele ist viel Anpassung an die Folgen möglich. Es gibt eine Formel, die in dieser Hinsicht immer wiederholt wird: Jedes Zehntelgrad Erwärmung zählt. Jedes Zehntelgrad, das wir verhindern, rettet Leben. Was das betrifft, habe ich viel Hoffnung. Gleichzeitig gilt: Es gibt auch einen Pfad zu einer unbewohnbaren Erde, den wir aktuell noch beschreiten.
Sascha: Die wissenschaftlichen Fakten zeigen, dass wichtige Kipppunkte bzgl. des 1,5-Grad-Ziels bereits hinter uns liegen oder wir deren Überschreiten nicht mehr aufhalten können. Das Übersauern der Weltmeere, das Tauen der Permafrostböden und das daraus austretende Methan als noch potenteres Treibhausgas, das aktuelle große Artensterben und der Verlust der Biodiversität, ganz zu schweigen vom Sterben der Gletscher, den Abschmelzraten der polaren Eismassen, dem Verlust von Süß- und Grundwasser. Die Veränderungen in diesem riesigen globalen System sind mit einem Öltanker vergleichbar. Kursänderungen können nur mit großen Kraftanstrengungen umgesetzt werden, aber selbst dann braucht es sehr lang, bis sie sich zeigen. Seit über 50 Jahren weisen Wissenschaftler nach, dass der menschliche Eingriff ins Klima schädlich ist und der Mensch sein Verhalten ändern muss. Vor allem der globale Norden hat sich bewusst entschieden diesen Hinweis zu ignorieren. Der Öltanker hat deswegen seinen PNR schon sehr lange verpasst. Der Mensch ist ein sehr anpassungsfähiger Organismus. Ich bin mir nur unsicher, ob er sich auf eine um 3 Grad erwärmte Welt und deren fundamental anderes Ökosystem einstellen kann.

Die Selbstüberhebung des Menschen und das Verwertungsdenken im Verhältnis Mensch-Natur: Was muss sich ändern,  damit umgehend Taten folgen?
Sascha: Dieser Gedanke muss endlich ad acta gelegt werden. Warum muss alles optimiert und ausgebeutet werden, warum muss alles gemacht werden, was technisch und kommerziell möglich ist? Der Verwertungsgedanke hat uns in diese Position gebracht, denn er treibt uns an, die Natur auszupressen, unsere Lebensgrundlage zu vernichten und auch gesellschaftliche Errungenschaften aufs Spiel zu setzen.  Was muss noch passieren, bis ein Umdenken, ein Umsteuern, ein Handeln eintritt? Dass tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken oder dass seit Jahren kein Regen in einigen Regionen Afrikas fällt und zehntausende Menschen deswegen verhungern, dass in Indien Tiere und Menschen auf der Straße tot umfallen aufgrund der wochenlangen Hitzewelle, dass in Australien Millionen Wildtiere im kontinentalen Waldfeuer verbrennen oder in den Regenfluten ertrinken, dass in Asien und Europa Flüsse zu wenig Wasser führen, um Kraftwerke zu betreiben, dass die Versteppung der Great Plains in Nordamerika so schlimm ist, wie seit Jahrzehnten nicht, dass es noch nie so viele Waldfeuer in Brasilien gab wie unter Bolsonaro. Jeden Tag sterben Menschen aufgrund unseres Handelns, aber global-relevante Taten sehe ich nicht.
Samuel: Ich glaube  nicht an die Trennung von „Mensch“ und „Natur“. Da sind für mich Argumente wie in Bill McKibbens „The End of Nature“ oder Steven Vogels „Thinking Like a Mall“ einschlägig. Wenn Natur alles ist, was frei von menschlichem Einfluss ist, dann gibt es keine Natur. In der Antarktis schneit es Plastik. Es gibt keine Natur ohne Menschen. Es gibt keine Menschen ohne Natur.

Im Editorial von „Poetry for Future“ fordern Sie: „Wir brauchen einen (Resonanz-)Raum für die Angst, die Trauer und die Wut auf ein zerstörerisches System“. Warum sollte sich Lyrik im Kontext der Umweltthematik mit diesen Gefühlen beschäftigen, Samuel?
Samuel: Diese Gefühle helfen uns, ins Handeln zu kommen. Sie helfen, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Wie soll ich die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen verstehen, wenn niemand darüber traurig ist, bestürzt, wütend? Und wie soll ich diese Gefühle verstehen, wenn sie nirgendwo kulturell verarbeitet werden? Da sehe ich einen Ansatzpunkt meiner Gedichte.
Sascha, warum Eco-Poetry und nicht gleich ein Manifest, ein Pamphlet oder Mitmachen bei Aktionen wie „Fridays For Future“?
Sascha: Ein jeder sollte auf so vielen Ebenen wie möglich aktiv werden. Vegetarier werden, sich gemeinnützig und politisch engagieren, den öffentlichen Verkehr oder das Rad anstelle des Autos nutzen, reparieren statt neu kaufen, Energie sparen, Geld spenden und auch kulturell für ein Umdenken werben. Und die Eco-Poetry sehe ich ganz klar als eine von vielen Optionen, die mir offenstehen und von der ich hoffe, dass sie ein Umsteuern auslöst.

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