Auf dem Weg in das Als-ob-Zeitalter

Uwe Lauterkorn

Sieht man sich heute um: überall Scheinwelten. In der Werbung grinsen überglückliche Siebzigjährige auf Schaukeln schwingend oder an der Reeling eines Kreuzfahrtschiffes mit einem Glas Wein in der Hand. Als ob es nur herrlich sei, alt zu sein. Auf Tik Tok und Instagram sehen wir junge Männer, Frauen und Diverse, schlank, schlanker, sexy und zum Platzen erfolgreich. Sogar was sie essen, ob im teuren Szenerestaurant in Dubai oder beim Imbiss um die Ecke, es wird fotografiert, mit dem Smart-Phone knackiger und strahlender gemacht und gepostet. Apps zur automatischen Gesichtsverschönerung, wie FaceTune, Picbeauty oder Visco, glätten die Haut, wandeln den leeren Gesichtsausdruck in ein umwerfendes Lächeln und optimieren die Proportionen von Augen, Nase und Mund nach geltenden Schönheitsidealen. Als ob jede/r ein Fotomodell sei. Der neueste Knaller: die Software ChatGPT sammelt im Internet alles was es gibt, verknüpft es kontextuell zu einer gigantischen Wissensdatenbank und kann, man halte sich fest, schwierige Fragen beantworten und Texte formulieren, als ob es ein kluger allwissender Mensch sei. ChatGPT ist zur Zeit in aller Munde und es verfasst bereits Gedichte, Romane und journalistische Texte en masse. Die KI („Künstliche Intelligenz“) benötigt dazu nur ein kurzes „Briefing“: was für eine Art Text soll es werden, Liebesbrief oder amtliches Schreiben, sowie einige Stichwörter. Weltweit wird diskutiert ob und wie in den Bereichen Journalismus, Wissenschaft und Bildung mit KI-generierten Texten umgegangen werden soll. Müssen diese gekennzeichnet werden? Kann man überhaupt erkennen ob ein Text von ChatGPT oder einem Menschen verfasst wurde? Es ist gut möglich, dass wir in Zukunft immer öfter ein KI-Gegenüber am Telefon oder im E-Mail-Verkehr haben werden, sei es bei der Verwaltung, der Krankenkasse oder anderen Dienstleistern. Als ob ein Mensch da wäre.

Beim Kulturring ist alles noch handgemacht und selbstgemacht. Bei uns erschöpft sich das „Als-ob“ zum Beispiel im Figurentheater „Grashüpfer“. Martina Pfeiffer schreibt darüber unter dem Titel „Als ob die Puppe ein eigenes Leben hätte“. Digitale Bildmanipulation war Thema eines Podiumsgespräches in der Fotogalerie Friedrichshain, Boris Mehl fasst die Ergebnisse unter dem Titel „Wie glaubwürdig ist Fotojournalismus?“ zusammen. Der Bürgermeister, der Bezirksstadtrat und BVV-Mitglieder aus Reinickendorf waren „in echt“ bei uns zu Gast und staunten über die Angebote und Leistungen des Medienpoints im Bezirk. Astrid Lehmann berichtet von diesem Arbeitstreffen. Und dieses Editorial wurde von einem echten Menschen per Hand geschrieben. Ehrenwort.

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