Als ob die Puppe ein eigenes Leben hätte

Martina Pfeiffer

Über das Figurentheater Grashüpfer und den Charme des Puppenspiels

Das Figurentheater Grashüpfer und der Kulturring in Berlin, eine lange Wegstrecke gehen beide nun schon gemeinsam. Um die Spielstätte mit dem fröhlichen Namen insbesondere bei der kinderpädagogischen Arbeit zu unterstützen, nutzt der Kulturring die Möglichkeiten der Arbeitsförderung sowie des Bundesfreiwilligendienstes. Deren Umsetzung im Sinne der Menschen, die ihre Arbeitskraft einbringen, ist beiden Partnern ein zentrales Anliegen. Seit 2012 ist das Theater Mitgliedsverein des Kulturrings.

In leicht gedämpfter Stimme, gleichbleibend angenehm für’s Ohr, plaudert Nicole ­Gospodarek über eine Stunde lang mit mir über das Figurentheater. Als ich ihren Trailer zu „Gordon und Tapir“ im Netz abrufe, kann ich nicht glauben, dass sie es ist, die da in den unterschiedlichsten Stimmen und Tonlagen – von brummig bis schrill, von gehaucht bis bellig – Worte und Töne von sich gibt. Nicole Gospodarek ist ausgebildete Schauspielerin. Sie lernte am Europäischen Theaterinstitut (ETI) in Berlin, hatte Engagements an ­Theatern in Konstanz, Wismar und Heidelberg. Derzeit tritt sie in Frankfurt/Oder im „Theater des Lachens“ auf. Seit zehn Jahren ist sie auch Puppenspielerin. Im Figurentheater Grashüpfer führt sie im Stück „Gordon und Tapir“ nach dem Kinderbuch von Sebastian Meschenmoser sämtliche Puppen und leiht ihnen ihre Stimme: „Jeder Handgriff, jeder Ton muss sitzen“ (N. G.) Die zierliche ­Aktrice spielt sowohl den Tapir als auch den Pinguin und dazu noch eine ganze Vogelschar, mal ihre Sätze krächzend, mal tirilierend. Stimm­akrobatik und Koordination der Mimin sind staunenswert. Im Stück kommen Tischpuppen zum Einsatz, bei denen die Puppenführerin nicht verdeckt, sondern für die Leute in den Stuhlreihen sichtbar agiert. „Die Kunst ist die Puppe so zu animieren, dass das Publikum mich vergisst und für Momente annimmt, die Puppe habe ein eigenes Leben.“ In der ehemaligen DDR hatte das Puppentheater einen weitaus größeren Stellenwert, erzählt die gebürtige Staaken­erin, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt. Vielen Theatern war ein Puppentheater angegliedert. Die Puppenspielsparte werde in den Schauspielhäusern gerade wiederentdeckt.

„Da kommen die Grashüpfer!“

Das Figurentheater Grashüpfer ist Mitgliedsverein des Kulturring in Berlin. Alles begann vor 38 Jahren in einem Hinterhoftheater in Friedrichshain. „Da kommen die Grashüpfer!“ riefen die Kinder den Puppenspielern entgegen, wenn diese in ihren grünen ­Kitteln von der Garderobe in Richtung Bühne liefen. Im Juli 1997 wurde umgezogen in einen ehemaligen Transitshop im Treptower Park. Sigrid Schubert baute das Theater auf, leitete es bis 2017. Die Spielstätte mit den kobaltblauen Außenwandkacheln engagiert vorrangig Berliner KünstlerInnen, zum jährlichen Festival im September gibt es auch Gastspiele von Auswärtigen.

Warum übertragen Schauspieler ihre Fähigkeiten auf eine Puppe und spielen die Rolle nicht leibhaftig? „Über die Puppen trauen sich die Schauspieler noch mehr, als sie es sonst tun. Das Puppenspiel spricht Ebenen an, die tiefer liegen“, so Theaterleiter Pier Luigi Lovisotto. Er macht damit deutlich, dass Puppentheater mehr leistet als Prügel­szenen, Geplänkel und Schabernack, wie man es mit dem Kasperletheater gemeinhin verbindet. Der Theaterleiter, der deutsche und niederländische Linguistik in Bologna studierte, ist vorerst von Februar 2022 bis Mai 2023 als Vertretung vorgesehen. Wenn die finanziellen Mittel hinreichen, könnte es dann eine Doppelspitze geben. Und ­Lovisotto zum Unterhaltungswert: „Ich mag Entertainment: das Bühnengeschehen darf gerne laut und bunt sein, dann ist es nach meinem Geschmack.“
 
Puppenspiel als vorwärtsgewandtes Theater

Wer hätte gedacht, dass auch Fechten und Akrobatik zur Ausbildung von Puppenspieler­Innen gehören? Inga Schmidt von den „Artisanen“, die zusammen mit Stefan Spitzer der Spielstätte im Treptower Park seit Jahren verbunden ist, durchlief die vierjährige Ausbildung im Fachbereich Figurentheater an der Musikhochschule Stuttgart und an der Berliner Hochschule für Schauspiel Ernst Busch. „Puppenführung muss man lernen, wie man ein Musikinstrument lernt.“ Inga Schmidt weiß, wovon sie spricht, denn sie spielt drei Instrumente: Querflöte, Cello, Klavier. Die Artisanen machen im Puppentheater die Musik, sie entwerfen das Bühnenbild und sie bauen die Puppen selbst. Bei den Figuren gibt es, wie ich erfahre, nicht nur Marionetten, sondern auch Tischpuppen, Handpuppen und Klappmaulpuppen: eine jede hat ihren eigenen Schwerpunkt. Bei den Handpuppen sitzt er im Herzbereich. Diesen Schwerpunkt zu beherrschen ist bei der Figurenführung von zentraler Bedeutung. Die KünstlerInnen sind nicht bloß mit den Händen, sie sind mit ganzem Körpereinsatz und sehr viel Leidenschaft dabei. „Puppenspiel ist für mich unerschöpflich“, begeistert sich Inga Schmidt. In ihren Aufführungen arbeiten die Artisanen überdies mit moderner Projektionstechnik. Zum Beispiel ist die Bühne in „Ente, Tod und Tulpe“ zunächst ein Sonnenschirm und wird im Spielverlauf zum Baum, See und schließlich zum Himmel.

Eine zweitrangige Kunst? Fehlanzeige!

Manchmal treten bis zu vierzehn Puppen in den Stücken der Artisanen auf, und alle werden von Inga Schmidt und Stefan Spitzer geführt. Neben dem jungen Publikum sind auch die Großen, so sie über Witz und Fantasie verfügen, eingeladen sich dem Charme des Dargebotenen zu öffnen. Inga Schmidt sieht das Figurentheater begründetermaßen als ebenbürtiges Mitglied im Ensemble der Künste. Tänzerisch, choreographisch – es gebe durchaus Parallelen zum Ballett und zum modernen Tanztheater.

Die Kleinen erhalten in den Stücken der Artisanen die Möglichkeit, eine noch nicht bewältigte existentielle oder gesellschaftliche Realität spielerisch zu erfahren. Die beiden Künstler scheuen sich nicht, ernste Themen aufzugreifen. Mit dem Puppenspiel „Anne Frank“ den Nationalsozialismus. „Als die Tiere den Wald verließen“ hat die Umwelt zum Thema. Zum aktuellen Stück im Grashüpfer Figurentheater, „Ente, Tod und Tulpe“ nach Wolf Erlbruch (frei ab fünf Jahren) bietet die Theaterpädagogin ­Alessia Ludovici Kitagruppen und Schulklassen eine Vor- und Nachbereitung an. Das Stück ist die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft. Es erzählt vom Leben und von unserer Endlichkeit, bedingt durch den Tod als letzte Grenze. „Totschweigen ist schlimmer als die Sache, über die geschwiegen wird“, ist sich die Artisanin sicher. Inga Schmidt freut sich über die zumeist vollen Stuhlreihen und sagt auch warum: „Kinder sind brutal ehrlich. Genau das will man. Ich lasse mich bei jeder Aufführung gern von Reaktionen aus dem Publikum überraschen.“

www.theater-treptower-park.de

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