Die Kunst, die aus der „Kanne“ kommt - Graffiti als Projekt des Medienpoints Tempelhof

Martina Pfeiffer

Sie machen die Straßen und Plätze der Stadt zu einer Open-Air-Galerie, mit freiem Zugang für alle, ohne Eintrittsticket und Dresscode: Graffiti. Die Pieces und Writings sind von ihren Urheber*innen – meistens mit der „Can“ (im Sprayer-Jargon „Kanne“ oder „Dose“, also Spraydose) – auf Stromkästen, Ampelmasten, Laternenpfählen, Ladenjalousien, Mauern, Häuserfassaden, Briefkästen, Bushaltestellen, Brückenpfeilern, Drainagerohren, in U-Bahneingängen und Tiefgarageneinfahrten aufgebracht. Den Alltagsgegenstand heben sie so ins Bewusstsein; Zweckmäßiges wird aufgewertet zum Kunst-Objekt. Zu einer Stadt wie Berlin passen die gesprayten Aussagen der Szene: sperrig, spannungs- und ideenreich, eine falsche Harmonisierung vermeidend, indem sie auch die Blessuren der Stadt und ihre Zerrissenheit aufzeigen. Das vibrierende Berlin repräsentieren sie visuell in höchst unterschiedlichen Darstellungen: exotisch, bizarr, innovativ, sozialkritisch, witzig.

Verborgen in einem Hinterhof in Friedenau

Für den Mitarbeiter Christian Schubert, Berliner seit 1982, hat das Projekt des Kulturrings zur Urban Art bewirkt, dass er offenen Auges durch die Straßen geht, in Tempelhof/Schöneberg und deren Ortsteilen: „Spannend, dass eine urbane Kunstform, die man zuvor nur nebenbei wahrgenommen hat, zur Hauptsache wird. Mittlerweile ist es so, dass mein Auge an jedem bunten Fleck hängenbleibt und meine Aufmerksamkeit geschärft ist für das, was andere vielleicht Schmiererei nennen. Man wird zum Entdecker, auch da, wo man es nicht vermutet, auf einem Hinterhof in Friedenau zum Beispiel.“ Wünschenswert wäre es aus seiner Sicht, eine Lagekarte zu entwickeln und mit den Abbildungen auf der Website zu verknüpfen. Im Projekt ist es seine Aufgabe, die Recherche im öffentlichen Raum zu betreiben, zu fotografieren und Material zusammenzutragen. Das wird dann gemeinsam ausgewertet. Die Interessengebiete des Schönebergers sind Geschichte, Stadtentwicklung, Theater, Film und Musik. Ich frage ihn danach, ob er einen persönlichen Favoriten unter den Graffiti in den Berliner Bezirken hat. Er: „Je größer die Stadt, desto schwieriger ist es für die Künstler, beachtet zu werden. Da liegt es in Berlin nahe, möglichst groß und möglichst bunt zu malen. Mein persönlicher Favorit ist allerdings eine kleine Figur. Eine Tänzerin, die mit schwarzem Filzstift neben eine Haustür gemalt ist. Wenig spektakulär.“

Spraykunst jenseits des Gewohnten

Als engagierter Mitwirkender am Graffiti-Projekt versteht sich auch Norman Voigt. Wie Christian Schubert ist er mit Recherche und Fotografieren betraut. Sehen und vor allem festhalten will er, was in Seitenstraßen und Hinterhöfen verborgen ist. Den außergewöhnlichsten Arbeitstag bisher verbrachte er mit seinem Projektteam samt Fotoausrüstung auf dem Südgelände, wo sich eine legale Sprühfläche befindet. „Als Betrachter triffst du bei Graffiti auf künstlerische Aussagen, die oftmals nicht konform gehen mit der öffentlichen Meinung. Die aber ihre Berechtigung haben, im Gedächtnis haften bleiben und weiterwirken.“ Weniger gut findet er, dass manches von dem, was das Projekt erfasst, möglicherweise schon bald von irgendwem übersprayt oder durchgestrichen wird. Ein fremdes Graffito wird nicht selten von anderen „zugetaggt“, um es zu zerstören. „Wir wollen appellieren, dass diese Kunst schützenswert ist. Die Stadt muss dafür sorgen, dass die Graffiti erhalten bleiben.“ Das Herz des Tempelhofers schlägt für Kunst und Kultur, (Berliner) Geschichte und Architektur. Erst neulich besuchte er das Urban ­Nation Museum for Urban Contemporary Art. Die derzeit dort präsentierten Fotografien zeigt er mir auf seinem Smartphone. Die Fotos machen mich neugierig. Die laufende Ausstellung werde ich mir nicht entgehen lassen.

Graffiti als Spiegel des Schmelztiegels Berlin

Buchstaben, Schriftzüge und Statements allein mag er bei Graffiti nicht, die figurative Spraykunst schon. Das meint Mario Marunge, im Projekt der Mann für die erste Bildbearbeitung. Bereits mehrere Hundert Projektbilder hat er optimiert. Unter anderem geht es um Schärfe, Farbe, Weißabgleich, Schattierung und die Korrektur von Gegenlichtaufnahmen. Auch privat gehört die Fotografie zu seinen Interessen. Außerdem seine Modelleisenbahn und die Musik der 60er bis 80er Jahre. Wieso passt Graffiti-Kunst zu Berlin? „Graffiti-Künstlerinnen und Künstler kommen oft aus aller Herren Länder in die Hauptstadt. Berlin ist ein Melting Pot, ein Schmelztiegel, und das spiegelt auch die Street Art wider.“ Mit einem Kopfnicken signalisiert Bernd Willner seine Zustimmung. Der gebürtige Dortmunder, der seit 1987 Berliner ist und derzeit in Mariendorf lebt, koordiniert in Abstimmung mit der Projektleiterin Friederike Büchner das Projekt. Die vom Kulturring angebotene fachkundige Führung in Kreuzberg mit Norbert Martins, selber Chronist von Street Art und Graffiti, habe alle Beteiligten befeuert, sich für das Projekt einzusetzen.

Mit Wissenszuwachs eine urbane Kunstform dokumentieren

Bernd Willner versteht sich auf den Umgang mit Datenbanken: „Das Besondere ist, dass wir vorbehaltlos und mit Erkenntnisgewinn eine urbane Kunstform dokumentieren und archivieren. Eine Kunst, die in ihren Anfängen und zum Teil bis heute als minderwertig abgetan wird, die aber in sehr vielen Fällen einen ernstzunehmenden Kunstcharakter hat.“ Unter dem Stichwort „Graffiti in ­Berlin“ sei im Netz leider das ohnehin schon längst Bekannte aufgeführt. „Man hat immer Eastside-Gallery und Konsorten im Kopf. Orte, die von Touristen angesteuert werden. Natürlich, Künstler brauchen eine Bühne und aus genau diesem Grund sind viele Graffiti da, wo was los ist. Aber mit dem Projekt bewegen wir uns bewusst auch abseits der Hotspots.“ Sein Graffiti-Favorit? Ein Doppeldecker-Bus auf einem Trafokasten.
Am Ende unseres Treffens im Medienpoint Tempelhof hat Bernd Willner noch einen Wunsch: „Toll wäre es, wenn auch die anderen Medienpoints die Idee eines Graffiti-Projekts aufgreifen, für ihren eigenen Kiez, und diese Idee weiterführen.“

Das Graffiti-Projekt des Kulturrings erfasst visuelle Darstellungen im öffentlichen Raum, in Tempelhof/Schöneberg, Marienfelde, Friedenau, Lichtenrade und Mariendorf. Dauer: Februar 2022 bis Februar 2023.

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