Liebe zur Freiheit? Furcht vor der Freiheit?

Zwei junge Lyrikerinnen reden Klartext

Die zweite Staffel von „Dichtkunst mal …“ in Zusammenarbeit mit dem Haus für Poesie heißt diesmal „Dichtkunst im Doppel“. Sie ist unter den Schwerpunkt „Freiheit“ gestellt. Der Freiheitsbegriff hat im menschlichen Denken unterschiedliche Akzentsetzungen erfahren. Und auch die Lyrik meldet sich auf ihre bündige Art zu Wort. Eine Gedichtzeile kann unter Umständen mehr über Freiheit aussagen als eine umfangreiche gesellschaftspolitische Abhandlung. Lena Riemer (19) und Josefine Berkholz (28) lesen jeweils eines ihrer Gedichte und nehmen im Interview Stellung. Sie zeigen auf, wie vielschichtig die Erscheinungsformen von Freiheit sein können.

Freiheit – Die Indie-Band Blumfeld hat es im Songtext „Wir sind frei“ mal so ausgedrückt: „Es gibt kein Müssen und kein Sollen, wenn wir nicht wollen“. Liegen die Dinge immer so einfach mit der freiheitlichen Gesinnung?
L. R.: Ich würde sagen, nein. Der Gedanke „Ich mache nur, was ich will“: Ein Hauch davon kann gut und wichtig sein. Doch letzten Endes sind wir alle zu sehr aufeinander angewiesen, um nur an die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu denken. Die Freiheit, die Blumfeld in dem Song beschreibt, ist meiner Meinung nach eine extrem privilegierte, die die wenigsten sich leisten können. Gerade das „Müssen und Sollen“ sichert ja in der Regel unsere Existenzgrundlage.
J. B.: Vermutlich nicht. Aber aufhören oder gar nicht erst mitmachen oder keine Lust (mehr) haben ist auf jeden Fall oft genug eine ziemlich legitime Haltung, und gar nicht so selten auch wirklich tapfer.

Václav Havel, Dichter und Politiker in einer Person, hat stets darauf hingewiesen, wie leicht das hohe Gut der Freiheit sich wieder verflüchtigen kann.
J. B.: Dass das faktisch so ist, zeigt ja die weltpolitische Lage relativ schonungslos. Das Menschenrecht auf Freizügigkeit wird weltweit durch rigorose und teils rechtswidrige Abschottungspolitiken gebrochen. In den USA treten gerade in mehreren Bundesstaaten Abtreibungsverbote in Kraft, die auch nochmal eine weitere Dimension bekommen dadurch, dass Straftäter*innen in einigen dieser Staaten nicht wählen dürfen. In meiner Heimatstadt Berlin sind die Mieten so stark gestiegen, dass man mit einem niedrigen Einkommen eigentlich keine Wohnung mehr finden kann. Aber „hohes Gut“ klingt immer nach etwas, das nicht selbstverständlich ist, so als müsste man sich das verdienen. Da wiederum würde ich nicht zustimmen. Klar, Freiheit mit allem was das impliziert (körperliche Autonomie, sicherer Zugang zum öffentlichen Raum, Entfaltungsmöglichkeiten etc.), aber auch Wasser, saubere Luft, Wohnraum – das sind hohe Güter in dem Sinne, dass wir ohne all das nicht existieren können. Und all diese „hohen Güter“, die Lebensgrundlagen sind, sind momentan für sehr viele Menschen bedroht, werden ihnen genommen oder vorenthalten. In diesem Sinne müssen „wir“, das verstehe ich jetzt mal als alle, die eine Auffassung von Gutem Leben haben, die nicht nur sie selbst einschließt, uns das kollektiv zurückerringen. Aber weil es genommen wurde oder vorenthalten wird, nicht, weil man sich diese Dinge erst verdienen muss.
L. R.: Freiheit ist kontinuierliche Arbeit. Sie einmal zu erlangen reicht nicht, wir müssen sie pflegen und verteidigen. Vor allem müssen wir die Kräfte erkennen, die unsere Freiheit gefährden. Aktuell wird uns immer wieder gezeigt, wie fragil unsere Freiheit ist – und wie schnell sie uns genommen werden kann, wenn wir uns nicht lautstark für sie einsetzen. Ich denke, es gibt genau so viele Freiheiten, wie es Menschen gibt. […] Als Dichterin spüre ich an wenigen Stellen so viel Freiheit, wie wenn ich schreibe.

Womit wir bei der Freiheit der Kunst wären. Ihr Gedicht „Brief an die Eltern“: Erwachsenwerden – das heißt auch, sich von den Eltern und ihren Ermahnungen loszulösen, freizumachen. Tappt man möglicherweise in eine Falle, wenn man in seinem Freiheitsdrang bloß das Gegenteil von dem machen würde, was die Eltern vorleben und einfordern?
L. R.: Natürlich! Aber vielleicht macht gerade das die Emanzipation von den eigenen Eltern aus: Dass man erstmal daran scheitert, alles komplett anders machen zu wollen. Und meistens fängt ja auch erst nach dem Scheitern die wahre Reflexionsphase an. Sowohl negative als auch positive Erfahrungen regen dazu an, sich zu überlegen, nach welchen Ratschlägen man leben will.

Mir scheint in Ihrem Gedicht beides angelegt: einesteils ein Dialogangebot an die Eltern und der Wunsch nach Verständnis, andernteils das Aufbegehren gegen Zwänge und das Auskosten von einer ganzen Menge an Freiheiten.
L. R.: Mein Gedicht versucht, die rebellische Phase nach dem Auszug von Zuhause darzustellen. Dass das nur eine Momentaufnahme ist und das lyrische Ich wahrscheinlich noch einige Enttäuschungen und Verletzungen erleben wird, können sich alle denken, die diesen Prozess selbst schon durchlebt haben. Und diejenigen, die sich gerade mitten im Prozess befinden, werden die Emotionen meines lyrischen Ichs teilen und mit der gleichen Ungewissheit auf ihre eigene Zukunft blicken, wobei „Ungewissheit“ ja auch immer Entwicklungspotenzial bedeutet, das gefällt mir.

In der Lyriktradition ist es Paul Celan, dem Sie sich nahe fühlen, wie Sie auf meine Nachfrage erklärten. Laut Celan ist das Gedicht wie eine Flaschenpost, aufgegeben in dem Glauben, sie werde irgendwo und irgendwann an Land gespült werden. Wie würden Sie eine „echte“ Flaschenpost-Botschaft zum Thema Freiheit formulieren?
L. R.: Ich würde mich kurzfassen und einfach schreiben: „Trau dich.“ Denn meist ist es ja Unverzagtheit, mit der die Freiheit beginnt.
Ihr Gedicht „Keine Gefahr“, Josefine: Der Ausblick auf grenzenlose Freiheit, der Sprung ins Ungewisse, kann zwiespältige Gefühle hervorrufen, unter anderem wohl auch Furcht.
J. B.: […] es ist mehr so, dass es, glaube ich, eine spezifische Art von Freiheit gibt, die damit zu tun hat, dass nichts, was vorher da war, noch da ist, und nichts, was vorher galt, noch gilt. Dass es keine Gewohnheiten mehr gibt und das Neue entsteht, einfach, weil man in einen komplett unbekannten, vielleicht auch unverstandenen Raum hinein-handelt. Die interessiert mich. Und es kann sowas ja eigentlich gar nicht geben, jedenfalls nicht vollständig, ich bringe in jeden Neu-Anfang etwas mit. Aber es gibt eine Suche, vielleicht auch eine Sehnsucht nach solchen Momenten. Und wenn es die im Ansatz gibt, dann haben sie, glaube ich, damit zu tun, dass etwas Vertrautes oder Gewohntes losgelassen, dekonstruiert wird, dass man geht oder aufhört. Und das ist natürlich auch beängstigend, aber ich denke, dass sich das lohnt. Eher für die Desorientierung als trotz ihrer.

Trotz eines Moments der Beklommenheit, welche die Aussicht auf Freiheit auslöst, scheint Ihr Gedicht also doch zur Freiheit anstiften zu wollen.
J. B.: Und das schließt die Desorientierung ein.

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