Wer will jetzt schon an den 5. Akt denken?
Alexander Kluges Film „Die Macht der Gefühle“ nutzt ein hypothetisches Interview um der Ambivalenz wiederholter Rituale auf den Zahn zu fühlen, der auch Interpreten in der Aufführungspraxis zwangsläufig ausgeliefert sind. Kurz zuvor haben wir den Schluss des ersten Akts der Verdi-Oper „Rigoletto“ von der Seitenbühne aus beobachten können, als gehörten wir zum Personal der Opernvorstellung. Es rumpelt und es wird gequatscht.
Die Interviewerin verblüfft den Kammersänger mit der Frage, wie er es als „vernünftiger Mensch“ fertigbringt, nach 84 Vorstellungen der selben Oper im ersten Akt immer noch Hoffnung darzustellen, obwohl er den „grässlichen Ausgang im 5. Akt“ doch kenne. Der Interpret winkt auch nach mehrfachem Nachhaken ab. Im ersten Akt könne er den Ausgang der Fabel auch nach der 84. Vorstellung unmöglich voraussehen. Ist das schon Professionalität? Die „technische Reproduzierbarkeit“ der Filmkonserve hat mir erlaubt, herauszufinden, um welche Verdi-Oper es eigentlich in dem kurzen Ausschnitt geht. Dass es sich um den Schluss des 1. Akts Rigoletto handelt, erfährt man nämlich nicht aus dem Abspann und auch bei keinem der einschlägigen Filmportale im Internet. Man muss sich Mühe geben. Aktive Rezeption wird einem abverlangt – ohne materielle Belohnung, aristotelische Katharsis oder Happyend.
„Spielen, als ob“ gehört zu einer gut erprobten Kulturtechnik. Wiederholte Simulation einer beispielhaften Handlung erzeugt multiple Ausgänge oder variiert immer den gleichen. Die Gesellschaft bestimmt das Ergebnis durch Verabredungen, deren Intention zum Guten interpretiert werden kann oder nicht – oder: nicht mehr. Wir sollen die Simulation nachempfinden. Epochen würzen die Erzählstoffe mit religiösen und/oder weltanschaulichen Legenden. Gebrauchsanweisungen der Theoretiker Aristoteles, Lessing, Brecht, Mann, Artaud und Kluge sind verblasst.
Ein Einzelfall ist Brechts Methode. Während des Krieges und davor ist Anleitungen zu studieren nützlich. Besser man nimmt den Clausewitz oder den Lenin nochmal zur Hand und macht sich ein Bild, als das personifizierte Böse in immer neuen Erzählweisen nachzuempfinden. Das Transparent „Glotzt nicht so romantisch“ ist mehr denn je geeignet, dem Publikum bei ziemlich jedem öffentlichen Anlass hingehängt zu werden - ob in „sozialen Medien“, beim Staatsakt oder im klassischem Konzert. Wer uneingeweiht auf die Suppenküchenpraxis von Kunst und Politik blickt, kann eine annähernd objektive Perspektive nur eingeschränkt erlangen: Es jeden Augenblick zu versuchen, ist bis in’s hohe Alter nicht verboten.
Als die Familie Mozart 1773 in das s. g. Tanzmeisterhaus an den Salzburger Hannibalplatz umzog, war Wolfgang Amadeus siebzehn Jahre alt. 1771 kehrte er mit Vater Leopold von der dritte Italienreise zurück, mit dem Opernauftrag für „Lucio Silla“ für den Mailänder Karneval aber ohne objektive Aussicht auf Anstellung in Italien. Die alte Wohnung der Familie in der Getreidegasse hatte Mutter Anna-Maria Mozart mit ihrem Mann gleich nach der Hochzeit im Winter 1747 bezogen. Ihre Kinder waren dort geboren, aufgewachsen oder gestorben. War die Wohnung objektiv zu klein? Verglichen mit den Wohnverhältnissen der „gemeinen Dienstboten“ sicher nicht.
Als die Mozart-Männer nach gut drei Jahren Werbetour mit anderen Manieren, fremden Gewohnheiten und exotischer Garderobe aus Italien nach Salzburg zu Anna Maria und Wolfgangs Schwester Nannerl zurückkehren, werden die Räumlichkeiten zumindest für die Frauen subjektiv sehr viel beengter gewirkt haben. Für Wolfgang Amadeus aber war Salzburg selbst nun endgültig zu klein. Noch hoffte er in Italien zu reüssieren. Er hatte sich viel „abgeschaut“ in der Praxis und schrieb Opera buffa und Opera seria mit Erfolg. Auf den Notenblättern der genialen Salzburger Sinfonien, die vielleicht noch als Eintrittskarte für Italien gedacht waren, hat Mozart das Entstehungsdatum irgendwann abgeschabt, um sie der Welt nach mehreren Anläufen zu präsentieren wie frisch gebacken – wer will schon wissen, wie der 5. Akt ausgeht.