Stets Online-Sein um jeden Preis?

Martina Pfeiffer

„Ich würde all meine Technologie geben für einen Nachmittag mit Sokrates“, so ein von Apple-Gründer Steve Jobs überlieferter Ausspruch. Ein ehrliches Bekenntnis oder der Image-Kniff eines gewieften Vermarkters?

Die Giganten des Silicon Valley, ­Google, Facebook und Apple, sie bieten vielerlei Annehmlichkeiten. Das Internet hat für kurze Wege und einfache Problemlösungen gesorgt. Von jetzt auf gleich lässt sich nach Informationen und Wissen recherchieren. Digitale Wörterbücher liefern ein breites Spektrum an Übersetzungsangeboten. Räumliche Distanzen sind keine mehr, was sich vorteilhaft auswirkt für das E-Learning, Videokonferenzen und die Arbeit im Homeoffice. „Umweltschonend“ und „nachhaltig“ sind Schlagworte unserer Zeit und gerade unter diesem ökologischen Aspekt hat das elektro­nische Datenarchiv seine unbestreitbare Berechtigung. Die Möglichkeiten zu kreativer Gestaltung haben sich durch die Digitalisierung erheblich erweitert. Soziale Plattformen bieten die Chance, Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Insbesondere für Menschen mit Handicap, beispielsweise Mobilitätseingeschränkte, bleibt der Inklusiongedanke kein Fremdwort. Und dennoch: als Kehrseite der Medaille, lässt die Digitalisierung bei all ihren Segnungen zugleich neue Probleme entstehen. Bedenken wegen beeinträchtigter Privatsphäre und unterschwelliger Einflussnahme zielen auf „Datenkraken“ und damit einhergehend auf die Gefahr, zum gläsernen Menschen zu werden. Auch die anwachsende Sucht nach Computer- und Videospielen, pädagogische No-Go-Areas, extremistische Stimmungsmache, Cybermobbing und eine unüberschaubare Informationsflut („information overload“) bieten Anlässe ernstzunehmender Befürchtungen. Künstliche Intelligenz kartographiert unser Innenleben, zeichnet uns Wege vor, von denen wir meinen, sie aus freien Stücken zu gehen. Stattdessen sind sie fremdsuggeriert. Filterbubbles bringen immer wieder Passgenaues ins Spiel, weil es dem eigenen Meinungs- und Interessenprofil entspricht. Wie kann da Umdenken und Veränderung vonstatten gehen? Kritisch zu werten auch die Tendenz zu Übertreibung und Verzerrung im Netz, wie sich dies in den sogenannten Fake News niederschlägt. Wie Studien gezeigt haben, verbreiten sich diese sechsmal so schnell wie Meldungen, die auf nachprüfbaren Fakten beruhen.

Andererseits machte das Netz wichtige Kampagnen wie „MeToo“ und „Black Lives Matter“ möglich. Außergewöhnlichen Projektideen, die sonst in der Schublade verblieben wären, eröffnet Crowdfunding Chancen auf Verwirklichung. Selbsthilfeforen leisten ihren Beitrag zum Empowerment. Positiv zu verzeichnen sind ebenfalls Foren, die neue Inhalte aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft leicht fasslich aufbereiten. Spezielle Plattformen verschaffen gerade Kindern und Jugendlichen Zugang zu anschaulichen Lernvideos. Die Nutzungschancen und -gefahren der Digitalisierung erkennen zu helfen scheint das Gebot der Stunde. „Jedes Medium bedarf einer eigenen Lesefähigkeit“, erklärt der Medienexperte und Jugendbuchautor Thomas Feibel. „Wer Bücher liest und Filme sieht, kommt mit dieser Lesefähigkeit bei ‚Fortnite‘ und sozialen Medien nicht weiter. Im Internet sollten wir uns ständig fragen ‚Stimmt das auch?‘“ Mit Blick auf den Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen ist „Digitale Fürsorge“ seitens der Eltern und Lehrkräfte unerlässlich. Die insbesondere bei Jugendlichen beliebte Selbstinszenierung auf Facebook oder Instagram unterstützt selten die Persönlichkeitsbildung, reduziert sie doch Eigendarstellung oftmals auf Bruchstückhaftes und Vordergründiges. Den Extremfall bildet das Cybermobbing. Missgunst, Verunglimpfung, Rufmord, Schikane, Ausgrenzung – Auswüchse der Medienkultur und Angriffe auf ein ohnehin fragiles Selbstbild in der Pubertät. Dass manche Heranwachsende versuchen, schulische Misserfolge durch gewalthaltige Computer- und Videospiele zu kompensieren, ist für Pädagog*innen ein offenes Geheimnis. Ein Verlust an Empathie und Zivilcourage im realen Leben als mögliche Folge sollte nachdenklich stimmen.

Das Zeitalter der uneingeschränkten Informationszugänglichkeit, der verlockende Komfort des Internet, hat positive wie negative Wirkung gezeitigt. Wir überfliegen, klicken Links an, verfolgen Facebook-Updates, lesen Blog-Posts auf die Schnelle. Man sucht nach Infos über das, was gerade passiert – Echtzeit-Updates, breaking news. Das Powersurfen verleitet zum unentwegten Hin- und Herspringen. Stattdessen wünschenswert: Mut zum „digital detox“. Mit kurzen Auszeiten vom Zerstreuungsspektakel ist schon viel gewonnen. „Kinder können sich allerdings nicht selbst regulieren“, sagt Thomas Feibel. „Sie brauchen die Hilfe der Erziehenden.“ Einem ausufernden Medienkonsum ist entgegenzuwirken. „Auch hier kommt es auf die Erziehenden an“, meint Feibel, „die im eigenen Umgang mit Smartphones & Co auf ihre Vorbildfunktion achten sollten.“

Überlegens- und wohl auch anstrebenswert, nicht nur für Kinder und Jugendliche: Mehr Zeit für ein ganzheitliches Erkunden der Welt mit allen Sinnen. Mehr Augen­blicke der vertieften authentischen Begegnung in der Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht. Mehr Offline-Zeit für Besinnung und Innehalten anstelle des Schnellfeuermodus flüchtiger Botschaften und Reize.

Tipps: Das „Gartenfest für alle Sinne“ der 7. Landesgartenschau in Brandenburg geht noch bis 31. Oktober: www.laga-beelitz.de  Für Kinder: www.naturerfahrungsraum.de.
Die Lesung mit Thomas Feibel findet innerhalb des Kulturring-Projekts „Literatinnen und Lite­raten in den Ring!“ in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt und der Stadtbibliothek Pankow statt. Das Projekt ist von der Idee getragen, die Vielfalt gesellschaftlicher Themen im Spiegel der Literatur zu vermitteln. Autorenlesung am 12. Oktober 2022 um 10 Uhr in der Wolfdietrich-Schnurre-Bibliothek, Bizetstr.41. Eintritt frei. Voranmeldung erbeten unter: 90295-3867.

Thomas Feibel, geboren 1962, ist der führende Journalist auf dem Gebiet Heranwachs­ende und digitale Medien in Deutschland. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin und publiziert für Spiegel.de, Stiftung Warentest, Tagesspiegel und viele andere. Er ist für das Deutschlandradio tätig, für den WDR und das RBB-Fernsehen. Seit 2002 verleiht Feibel als Initiator den deutschen Kindersoftwarepreis TOMMI (www.kindersoftwarepreis.de), seit 2010 unter der Schirmherrschaft des Bundesfamilienministeriums. Hinzu kommen Publikationen, zum Beispiel „Jetzt pack doch mal das Handy weg“ (Ullstein, 2017), „Snapchot, WhatsApp und Instagram“ (Carlsen, 2017) und die Netzkrimis zum Mitraten „Hilda und Hulda lösen jeden Fall: Cybermobbing Bd. 1“, „­Fakenews Bd. 2“ (medhochzwei Verlag, 2021).
www.feibel.de

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