Autorin Dorothee Nolte erinnert an die jüdische Salonière
Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) hat sich von den Reglementierungen ihrer Zeit gleich doppelt befreit: als geistreiche Frau und als emanzipierte Jüdin. Selbst im Zeitalter der Aufklärung besetzten Juden in der Bevölkerung eine gesellschaftliche Randposition. Mit Berlin hatten sie eine Stadt für sich entdeckt, die ihrer Entfaltung mehr Freiraum als andere Orte bot. Die veränderungsfreudigen Neuankömmlinge und die wandlungsbereite preußische Hauptstadt begünstigten wechselseitig ein geistiges Klima, das der Stadt ein besonderes Gepräge verlieh. Bei alledem spürt die Jüdin Rahel Levin dennoch ihr Außenseitertum. Zugleich kritisiert sie, jeder Wunsch werde Frivolität genannt, sobald eine Frau sich aus den ihr gesellschaftlich angelegten Fesseln lösen wolle.
Rahels „Salon“: ein Mansardenzimmer in der elterlichen Wohnung, Berlin Jägerstraße 54. An der Wand dem Vernehmen nach ein Porträt von Gotthold Ephraim Lessing, dem überzeugten Aufklärer und Vertreter des Toleranzgedankens. Größere Treffen finden in der Beletage des Hauses statt. Debattieranlässe bilden literarische Neuerscheinungen, ebenso wie die im nahen Schauspielhaus inszenierten Theaterstücke. „Hier wurde mit Worten gefochten, Kritik mit Geist und Witz geübt, um Wahrheit gerungen“ steht auf der Gedenktafel des Hauses. Ihre „Dachstubenwahrheiten“ sagt die gewandte Plauderin jedem, ungeachtet seines Glaubens, seiner Herkunft oder gesellschaftlichen Position. Angetrieben von ihrem „Menschenhunger“ öffnet sie die Salontür für Künstler, Diplomaten, Naturforscher, Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft sowie des Adels. Freilich geht es auch um Ränkespiele und Herzensdinge. Dem damaligen Schönheitsideal entspricht die junge Rahel allerdings nicht. Sie habe „keine Grazie und nicht einmal die Gabe einzusehen, woran das liegt“, so ihre Eigenmeinung.
Das Berlin um 1800 erlebt eine Kulturblüte. Es darf als regelrechter Ideenhort bezeichnet werden. Vorrangig jüdische Gastgeberinnen initiieren eine Form der Geselligkeit, die ihnen gesellschaftliches Interesse verschafft. Berlin erfährt eine vormals nicht gekannte Konversationskultur und setzt die Messlatte für ein hohes intellektuelles Niveau. Die ins Leben gerufenen Salons wurden in jener Zeit als „Zirkel“, „Kränzchen“, „Abendtees“ oder „Soirées“ bezeichnet. Viele der Berliner Salonièren waren Töchter von Größen der jüdischen Aufklärungsbewegung, „Mendelssohns Töchter“. Einer der Gründe für den hohen jüdischen Anteil an Salons, die den legendären berlinisch-jüdischen Geist prägten, war die vorzügliche Bildung, welche gutsituierte jüdische Eltern ihren Töchtern zukommen ließen. Nicht so im Fall von Rahel Levin. Die 1771 Geborene wächst zwar vermögend, aber ohne schulische Bildung auf – „wie in einem Walde“, sagt sie selbst. Im Streben nach ungehinderter Erfahrung will sie „das Leben auf sich regnen lassen“ und entwickelt eine unbändige Lust auf Wissen und Kultur. Eigeninitiativ erwirbt sie sich Kenntnisse in Fremdsprachen und höherer Mathematik, erlernt das Klavier- und Geigenspiel und schärft ihre Urteilsfähigkeit im Literarischen. Denken sei Graben, mit einem Senkblei messen, schreibt sie. Dabei mag sie an die Weltvermessung ihres Salonbesuchers, den weitgereisten Alexander von Humboldt gedacht haben. Das Talent Rahel Varnhagens, Positionen zu erkennen und Oppositionen zu versöhnen, erweist sich bei den mitunter hart aufeinander prallenden Überzeugungen als segensreich. Nicht allein, dass sie eine begnadete Zuhörerin ist; die Gäste attestieren ihr neben einem scharfen Verstand auch Herzensgüte. Friedrich de La Motte-Fouqué nennt sie eine „Seelenentflammerin“. Goethe, zu dem sie kurzerhand in den Kurort Karlsbad reist, schätzt ihre Originalität und ihren Wortwitz. Auf die Frage einer Bekannten, wie sie den Wilhelm Meister findet, verdichtet Rahel ihre Einschätzung in folgendem Bonmot: „Anstatt göttlich sage ich goethelich“.