Warum eignet sich speziell die Lyrik für das, was Sie künstlerisch ausdrücken wollen?
Sophie: In der Lyrikszene wird gern gescherzt, dass wir eigentlich immer nur für uns selbst schreiben. Nur wer Lyrik schreibt, liest auch Lyrik. Ich glaube nicht, dass das ganz stimmt. Es ist aber definitiv ein anderes Publikum als das für Romane. Menschen, die das Spiel mit Sprache mögen, die Spaß an Sprachrätseln haben. Ich selbst mag es, Gedichten auf die Spur zu kommen und sie wie Sherlock Holmes zu entschlüsseln.
Konstantin: Besonders wertvoll an Lyrik sind die Möglichkeiten zu hochpräzisem Ausdruck und, was konträr erscheinen mag, zu radikaler Offenheit.
Şafak: Nirgends sonst ist Sprache derart konzentriert und im Schwung von Klang, Symbol und Gehalt. Das Gedicht transportiert die menschliche Ursprache des Gesangs, der Epik und des Gebets, wenn man so will.
Lea: Lyrik ist ein Stück gelebte Utopie: sie macht deutlich, wie viele Facetten in einer einzigen Perspektive liegen können und offenbart die Gleichzeitigkeit der Realitäten, in denen wir leben und die gesellschaftliche Veränderungen hin zu sozialer Gerechtigkeit so notwendig machen. Ich habe mir vorgenommen, dieses Jahr bewusster für die politischen Kontexte zu schreiben, in denen meine Lyrik sich bewegt: Texte als Einladung zu gestalten in einen Raum, in dem Menschen miteinander in Austausch gehen und gemeinsam Empowerment erfahren können – auf Demos und in Protestcamps.
Neue Medien und Lyrik – wie geht das zusammen?
Şafak: Sie erschaffen ganz neue Synthesen und Möglichkeitsräume. Der „immersive Raum“, das multipliziert nochmal, was Kunst bedeuten kann.
Sophie: Ich glaube gar nicht, dass Lyrik sich so stark verändert. Die performative Arbeit aber, die Inszenierung, wird vielleicht wichtiger. Auch die Lyrik wird „eventisiert“, wird einfacher zu schlucken, einfacher verpackt. Das klingt vielleicht negativ, diese „Eventisierung“ ermöglicht aber immer neue Formate, neue „Genreauswucherungen“ im positiven Sinne.
Lea: Neue Medien machen es noch schwieriger, eine Definition um Lyrik zu legen, die nicht bei der kleinsten Berührung zerfließt. Multimediales Arbeiten wird ohne viel technisches Wissen und materielle sowie finanzielle Ressourcen zugänglicher. Für mich persönlich werden auch Sound & Video zu den neuen Grundstoffen meines Schreibens.
Konstantin: Aus vielen Quellen, die Lyrik, die Kunst speisen, kann mithilfe des Internets geschöpft werden. Das spiegelt sich auch in manchen Texten wider, diese Überlappung, Überflutung, auch das Abwegige, das von Link zu Link klettern. Im Prozess des Abtippens in den PC fallen andere Elemente des Textes auf. Vertipper können auch produktiv genutzt werden. Es ist wunderbar, sich auf „lyrikline“ von Zufallsgedicht zu Zufallsgedicht zu klicken. Allerdings – ich habe das Gefühl, dass das Buch als Form(at) die vielem Digitalisierten inhärente Flüchtigkeit nicht mitmacht, und dass gegen sie als Uferloses, das Buch weiterhin besteht, auch digital.
Sophie, Ihr Gedicht mit den Anfangszeilen „Ich habe das“ lässt ein Sich-Fremd-Fühlen in der eigenen Sprache erkennen: Haben Sie selbst eine Sprachkrise durchgemacht, ein Zweifeln an den Möglichkeiten der Sprache?