Visionen im Visier

Martina Pfeiffer

Der Science-Fiction-Club „Andymon“ schlägt die Brücke zu Künftigem

Ob nun umrissen als „Wirklichkeitsüberschreitende Verfremdung“ oder „Wissenschaftliche Phantastik“, Science-Fiction lässt sich fassen als zukunftsgerichtetes Gedankenexperiment, bei dem Fiktion und Fakten verquickt werden. Nach Art eines Seismographen verzeichnet die Science-Fiction gegenwärtige Tendenzen.  Hier bleibt sie aber nicht stehen, denn sie führt Zeitgeisterscheinungen stringent weiter fort.  Spielerisch entwickelt sie kraft des spekulativen Geistes Einfälle und webt ein Netz von Mutmaßungen über Unmögliches oder Noch-nicht-Mögliches, oftmals gekoppelt an das Unerwartete, welches das Phantastische ausmacht. SF lässt Visionen vor dem geistigen Auge erstehen. Mit ihrer Methode des ungezügelten Zu-Ende-Denkens wagt sie anzuzweifeln, was als unumstößlich gilt, ruft sie zu eigenständigem Denken auf. Indem Science-Fiction-Literatur  die Leserschaft zum Durch- und Weiterdenken anhält, erweist sie sich im Idealfall als intellektuelle Schmiede.

Visionen: kulturringbezogen, gesamtgesellschaftlich, global
Die gedanklichen Entwürfe von Anderswelten – seien es bessere oder bedrohliche – entspringen einer realen Besorgnis um die konkrete Gestaltung der Zukunft. Die Science-Fiction entwickelt diskussionsfähige Zukunftsmodelle. Sie setzt über Visionsangebote Aushandlungsprozesse in Gang, die in einer freiheitlich orientierten Gesellschaft unverzichtbar sind.

Der Science-Fiction-Club Andymon ist eine Gruppe,  die dem Kulturring seit nunmehr beinahe vier Jahrzehnten verbunden ist. Ralf Neukirchen, Leiter des SF-Clubs Andymon und Hardy Kettlitz, ein Gründungsmitglied des Clubs, haben sich mit der folgenden Frage befasst: Welche Visionen stellen sich bei Ihnen im Hinblick auf den Kulturring in Berlin ein? Und welche Visionen in gesellschaftlicher oder sogar globaler Hinsicht?

O-Töne aus dem SF-Club Andymon von Ralf Neukirchen und Hardy Kettlitz

Stärkere Vernetzung
Bewährt hat sich für Andymon die langjährige Zusammenarbeit mit dem Kulturbund bzw. dem Kulturring insbesondere bei organisatorischen Dingen. Wobei hier als erstes die feste „Heimstatt“ in der Ernststraße zu nennen ist, ohne die wir wahrscheinlich heute so nicht mehr existieren würden. Ich könnte mir gleichwohl den Kulturring als „Dachorganisation“ vorstellen, die für ihre Mitglieder nicht nur ein organisatorisches Fundament bildet sondern auch, als Nebeneffekt, ein größeres Stimmgewicht gegenüber der Stadtpolitik in kulturellen Angelegenheiten hat. Natürlich sollte  es bei den Interessengruppen unter diesem „Dach“ im (Ideal-)Fall ein gegenseitiges Befruchten in gemeinsamen Aktivitäten oder Projekten geben. Solche „Vernetzungseffekte“ können der Ausgangspunkt für gemeinsam zu entwickelnde Visionen sein.

Als zukunftsträchtige Aktivitäten würde ich solche sehen, die durch die Kinder und Jugendlichen, die jungen Erwachsenen, ausgeübt werden. Da müsste oder könnte man sich an den entsprechenden Orten – Schulen, Universitäten, Jugendzentren, Jugendclubs –  umsehen. Man könnte diese Gruppen, wenn man sie ermittelt hat, gezielt in den Kulturring einladen zu Diskussionsrunden, Thementagen, Ausstellungen, Lesungen oder zu Outdoor-Aktivitäten. (Ralf Neukirchen)

Öffnung aufs Globale
„Mir würden schon kleine sichere und feste Schritte in die richtige Richtung genügen: angefangen bei Tempo 130 auf der Autobahn; gleicher Lohn für gleiche Arbeit in Ost und West, Nord und Süd; strikter Ausbau des ÖPNV inklusive der Bahn, damit der Straßenverkehr reduziert werden kann; Stopp des Autobahnausbaus; Preise für Flüge äquivalent zu den ökologischen und klimatischen Schäden, die dadurch entstehen; Einführung von verbindlichen Regeln für nachhaltige Produkte; Eindämmung des Konsumwahns; Erhebung von Steuern auf Luxusgüter (z. B. Autos ab 80.000 Euro, Uhren ab 2.000 Euro usw.); eine solidarische Wirtschaftshilfe und Entwicklungspolitik, damit die Länder der sogenannten Dritten Welt sich endlich aus ihrem Elend befreien können und die Menschen von dort nicht zur Flucht gezwungen sind, um ein menschliches Leben führen zu können.“ (Ralf Neukirchen)

Einbezug der Stadtteilkultur
„Visionen kulturringbezogen? Wir leben in einer Zeit, in der sich außerordentlich viele junge Erwachsene für das kulturelle Leben in Berlin interessieren. Berlin gehört zu den beliebtesten Städten der Welt. Das britische Time-Out-Magazin nennt Neukölln auf Platz 11 der Liste ‚Coolest Neighbourhoods‘ der Welt. Ich wohne in Neukölln und neben der besorgniserregenden schleichenden Gentrifizierung beobachte ich ein anderes Geschehen mit Freude, nämlich das Aufblühen des kulturellen Lebens in meinem Stadtbezirk. Es gibt hier zahllose neue Galerien, Kunstwerkstätten und kulturelle Begegnungsstätten, die ausnahmslos von jungen Erwachsenen betrieben und besucht werden.
Eine strategisch angegangene, intensivere Kontaktaufnahme mit diesen Einrichtungen könnte für frische Impulse sorgen und zu einer langfristigen ‚Verjüngung‘ des Kulturrings führen.“ (Hardy Kettlitz)

Denken in konkreten Szenarien
„Zu den Visionen in größeren Ausmaßen fällt mir ein Buch ein, ‚Visionen – 1900 · 2000 · 2100, Eine Chronik der Zukunft‘, verfasst vom Schriftstellerehepaar Angela und Karlheinz Steinmüller. Im Buch ‚Visionen‘ entwirft das Autorenduo Zukunftsszenarien auf wissenschaftlicher Basis, die alle Bereiche des menschlichen Lebens umfassen: Ökonomie, Ökologie, Wissenschaft und Technik, aber auch Kultur und Kunst. Worauf ich hinaus will: Das Erdenken von konkreten Szenarien kann dabei helfen, Visionen der Zukunft und vor allem auch für den Weg dorthin zu entwickeln.

Vielleicht kann die Lektüre des ‚Visionen‘-Buchs helfen, in Szenarien im Sinne von Handlungskulissen zu denken und dabei auch die für jede Gesellschaft so dringend notwendigen Visionen  zu entwerfen.“ (Hardy Kettlitz)

Am 6. Februar 1985 wurde Andymon als „Interessengemeinschaft für Wissenschaftlich-phantastische Literatur“ beim Kreisverband des Kulturbundes Berlin-Treptow gegründet. Der 1982 veröffentlichte Roman der studierten Mathematikerin Angela Steinmüller und des Diplomphysikers Karlheinz Steinmüller, der zusätzlich in Philosophie promovierte, gewann im Herbst 1986 das Rennen um die Namensgebung des Clubs. Die Entscheidung fiel für diesen Titel, da die damaligen und auch heutigen Mitglieder des Clubs den Roman als eines der besten SF-Werke der DDR schätzen. Angela und Karlheinz Steinmüller sind mehrfache Preisträger des Kurd-Laßwitz-Preises für Science-Fiction. Derzeit hat Andymon etwa 25 Mitglieder. Ralf Neukirchen hat die Leitung seit 1995 inne. Seit der Gründung trifft sich der SF-Club jeden zweiten Donnerstag im Monat in den Räumlichkeiten des Kulturrings in Treptow, Ernststraße 14/16 ab 18.30 Uhr. Die Internetseite des Clubs zeigt die Themenvielfalt der Abende. Jederzeit ist auch eine eigene Textproduktion zum Thema willkommen und kann zu den Gruppentreffen auf Wunsch gerne vorgetragen werden. Zusätzlich finden sich Buchvorstellungen von einschlägigen Neuerscheinungen; Musikabende mit SF-Bezug; Filmabende zu  außergewöhnlichen  SF-Filmen oder Serien jenseits des Mainstreams; Gesprächsrunden z. B. zu Science-Fiction in angesagten Comics und Mangas u. v. m. Alle Interessierte mit einem Faible  für das starke Doppel von Wissenschaft und Phantastik sind herzlich eingeladen, dazuzukommen!

Buch „Andymon“: https://steinmuller.de/de/zukunftsforschung/buecher/visionen

Website des Clubs: www.club-andymon.net

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