Der Sandmann kommt

Martina Pfeiffer

Zum 200. Todesjahr des Romantikers E. T. A.  Hoffmann

„Ist es irgend möglich zu machen, so bleibe ich hier in Berlin“, schreibt der gebürtige Königsberger E. T. A. Hoffmann 1798 an seinen Jugendfreund Hippel. Die Königliche Hofoper, das Nationaltheater und die Ausstellungen der Akademie der Künste hatten ihn für Berlin eingenommen. Doch wunschgemäß verläuft es zunächst einmal nicht. 1802 sieht sich Hoffmann wegen einer Karikaturenaffäre nach Plock in Polen strafversetzt. Versuche, als Musikdirektor in Bamberg,  Leipzig und Dresden  zu reüssieren, enden im Debakel.  In Berlin fasst Hoffmann erst im dritten Anlauf Fuß. 1816 erfolgt die Ernennung des studierten Juristen zum Gerichtsrat am Berliner Kammergericht an der Lindenstraße, heute das Jüdische Museum. Vorangegangen war sein literarischer Durchbruch mit den „Fantasiestücken in Callots Manier.“ Mit seiner Frau  Marianna Tekla Michalina Rorer („Mischa“) wohnt er bis zu seinem Tod 1822 in der Taubenstraße mit Blick in die Charlottenstraße und auf den Gendarmenmarkt.

Der Erfinder des unheimlichen Augenräubers Coppelius, der täuschend echten Automatenfrau Olimpia und des sich empfindsam gebenden Kater Murr bündelte die Errungenschaften der Romantik. Er machte die Aufbruchstimmung einer neuen Zeit nachdrücklich erlebbar: die Betonung der Freiheit des Individuums und des schöpferischen Ich, das Streben nach Originalität statt maßregelnder Traditionen.  Entgegen bürgerlicher Zweckdienlichkeitserwägungen, welche die Fantasieleistung abwerten gegenüber dem, was sich in barer Münze aufwiegen lässt, setzt Hoffmann das Prinzip explorativer „Phantastik“, wie es sich  bis in die moderne Fabulierkunst, Fantasy und Science Fiction geltend macht.

Aber Hoffmann entwirft vor allem auch das ergänzende Gegenstück zur Aufklärung mit ihrem Kult des Verstands. Sein Erzählzyklus „Nachtstücke“ macht sinnfällig, was der Lichtkegel der Aufklärung nicht erfasst: das Abseitige, Nicht-Vorzeigbare,  das in der bürgerlichen Gesellschaft allenfalls hinter vorgehaltener Hand Getuschelte. Schwellenmotive wie Dämmer, Traum, Wahnvorstellungen nutzend, bereitete er den Boden für eine erst späterhin erfolgende Würdigung der Kunst psychisch Kranker.  Im Nachtstück „Der Sandmann“ zeigt sich nicht nur ein mehrperspektivischer Erzählstil; Hoffmann arbeitet hier den zu seiner Zeit neuesten Stand des psychiatrischen Wissens ein, beschreibt traumatische Erlebnisse, Sonderlinge und Ich-Spaltung. Nicht von ungefähr wird Sigmund Freud hundert Jahre später Bezug nehmen auf Hoffmanns „Sandmann“, in seiner Abhandlung „Das Unheimliche“. Denn auch der Psychoanalyse geht es ja seit ihren Anfängen bis in unsere Tage um Verschüttetes und Verdrängtes, um die Schattenseiten der menschlichen Persönlichkeit, wie sie Hoffmann mit literarischen Mitteln anzugehen wusste. Auch hierin also ist dieser Spätromantiker von frappanter Aktualität. Im Roman „Elixiere des Teufels“ gestaltet er die Bedrohung der menschlichen Existenz durch künstliche Doppelgänger, durchaus etwas für den Kybernetiker von heute. Auch Schauermotive finden sich in seinem Werk. Im landläufigen Verständnis wurde er  deswegen auf den sogenannten „Gespenster-Hoffmann“ verkürzt.

Vielfach verschränkt der Dichter kenntnisreich Künstlernovelle mit Kriminalbericht, und Märchenhandlung mit historischer Erzählung. Hoffmann fordert nicht nur die gedeihliche Wechselberührung zwischen den Künsten und Wissenschaften – als Jurist, Schriftsteller, Komponist, Karikaturist, und Musikkritiker lebt er sie auch. Die späteren Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer und Paul Klee fühlen sich nach eigenen Aussagen durch Hoffmanns visionäre Stärke angespornt. Sie erkennen in ihm den gedanklichen Wegbereiter des Gesamtkunstwerks mittels einer Verflechtung der Künste. Und Hoffmann geht sogar noch weiter, indem er die Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben anstrebt: Kunst als integraler Bestandteil der Lebenswelt –  ein damals bahnbrechender, weil moderner Gedanke.  Diese Sicht ergänzt Jörg Petzel, Vize-Präsident der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft:  „Zeitlos bleibt Hoffmanns Beschäftigung mit der Naturwissenschaft und Medizin. Dies und die  Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn und komplexen Alltagsphänomenen sowie die Warnung vor den Gefahren der Robotisierung belegen seinen erweiterten Kulturbegriff, dessen Wirkung sich nicht allein auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Bis heute findet das Gesamtwerk u.a. auch in Russland, Frankreich, China und Japan eine anhaltende Resonanz und Rezeption.“

Als eine frühe Form der Kriminalerzählung  darf die Novelle „Das Fräulein von Scuderi“ gelten. Die Einfühlung in den hier auftretenden Täter, einem Goldschmied namens Cardillac , liefert weitaus mehr als bloße Rätselspannung. Das Krankheitsbild des Künstlers, der sich von seinem Kunstwerk nicht trennen und infolgedessen es auch nicht veräußern kann, ist als „Cardillac-Syndrom“ in die Nachschlagewerke der Psychologie eingegangen. Hoffmanns Vorliebe für derlei „Intravaganzen“ und Absonderlichkeiten, sein Herz für Verstiegenheiten und Labyrinthisches weist in eine diametral andere Richtung als der Kanon des Klassischen. Insgesamt steht diese Erzählprosa für den jederzeit möglichen Einbruch des Wunderbaren ins Gewöhnliche. Der Alltag wird durchlässig, was bei der Leserschaft eine Bandbreite an Seelenzuständen von Sehnsucht bis Grauen auszulösen vermag. Und nicht zu vergessen: Hoffmann erschafft als Komponist der „Undine“, gemeinsam mit seinem Librettisten Friedrich de La Motte-Fouqué, die erste romantische Oper, noch vor Carl Maria von Webers „Freischütz“. Als Musikkritiker  gehört Hoffmann – er wandelte einen seiner Vornamen aus Bewunderung für Mozart in „Amadeus“ um –  zu den ersten, die auf Beethovens zukunftsweisendes Format aufmerksam machen sollten. Durch seine Aufwertung der Instrumentalmusik leitet der Rezensent Hoffmann einen Paradigmenwechsel in der Musikanschauung ein.

Je mehr man sich auf die Hoffmann'schen Werke einlässt, umso deutlicher wird die weitreichende Strahlkraft einer genialen Künstlerpersönlichkeit. Es verwundert nicht, dass er eine Vielzahl zeitgenössischer und nachfolgender Künstler*innen maßgeblich beeinflusste. Jacques Offenbach setzt der legendenumwobenen Person Hoffmann und der von ihm geschaffenen Figuren mit der tragikomischen Oper „Hoffmanns Erzählungen“ ein Denkmal. Als Kulisse ist die Lieblingsdestination des Wahlberliners „Lutter und Wegner“ am Gendarmenmarkt präsent.  Mehr als die feinsinnige Salonkultur seiner Zeit schätzt der Literat diese rustikale Szene-Adresse, wo  mit dem neuen Modegetränk, dem „Schampus“,  bei ihm auch die Ideen fließen. So pendelt Hoffmann in schöner Regelmäßigkeit zwischen dem Kammergericht und dem behaglichen Kellergewölbe, in dem er mit dem Hofschauspieler Ludwig Devrient so manche Nacht zechend verbringt.

Insbesondere in seinem Spätwerk tritt der Romantiker für eine neue humoristische Kunst ein. Sein letztes Werk sorgt für einen Skandal, denn das Kunstmärchen „Meister Floh“ wird wegen satirischer Anspielungen auf die Vorgänge bei der Demagogenverfolgung zensiert. 1822 bringt es ihm sowohl ein Ermittlungsverfahren wegen Majestätsbeleidigung als auch ein Disziplinarverfahren ein. Seine Verteidigungsschrift diktiert Hoffmann aus dem Bett, an das er wegen einer fortschreitenden Muskellähmung gefesselt ist.

E. T. A. Hoffmann, der am 25. Juni 1822 mit nur 46 Jahren stirbt: eine Persönlichkeit, die ihrer Epoche den großen Atem gab. Sein Grab befindet sich auf dem Gemeindefriedhof der Jerusalems- und der Neuen Kirche vor dem Halleschen Tor. Der Hoffmann-Kenner Bernd Hesse betont die überzeitliche Aura dieser ingeniösen Persönlichkeit: „Hoffmann darf als einer der letzten Universalkünstler bezeichnet werden. In einer Zeit, in der der Mensch gezwungen ist, sich ständig neu zu erfinden und selbst zu optimieren, er in permanenter Veränderung lebt und hektische Betriebsamkeit herrscht, gibt Hoffmann Räume und Inspirationsquellen.“

Anlässlich des 200. Todesjahrs von E. T. A. Hoffmann 2022 haben Bernd Hesse und Jörg Petzel den beim Eulenspiegel Verlag jüngst erschienenen Band „E. T. A. Hoffmann: Ein Lebensbild in Anekdoten“  vorgelegt. Beide Autoren sind auch Herausgeber der zeitgleich publizierten Werkauswahl „E. T. A. Hoffmann, Mit dem Kopf im Himmel und den Füßen auf der Erde“,  Marix Verlag des Verlagshauses Römerweg. Die neuesten Ergebnisse ihrer Forschungen haben sie in dem Aufsatz „Aus Überzeugung der Notwendigkeit studiere ich mein jus' oder E. T. A. Hoffmanns Studienzeit in Königsberg“ im aktuellen E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 2021 veröffentlicht. Bernd Hesse hat Jura an der Freien Universität Berlin und Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) studiert. Er ist in beiden Fächern promoviert. Seine geisteswissenschaftliche Doktorarbeit verfasste er zu E. T. A. Hoffmann. Der Vize-Präsident der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft Jörg Petzel las sich bereits während seiner Lehrzeit als Buchhändler in E. T. A. Hoffmanns Werk ein, lange vor seinem Studium der Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft. Er ist Mitherausgeber und Editor der maßgeblichen Gesamt-Ausgabe von E. T. A. Hoffmanns sämtlichen Werken im Deutschen Klassiker Verlag.

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