„Stirb und werde”

Hannelore Sigbjoernsen

Ein schwarzer Tag für den Kulturbund – oder vielleicht doch nicht?

Es ist nicht bekannt, ob die Gründungsversammlung des „Kulturbund zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands“ am 25. Juni 1945 euphorisch und mit Sektgelage geendet hat. Der Beschluss der Delegiertenversammlung der vor allem ostdeutschweit immer noch aktiven Kulturbundorgansationen am 28. August 2021 in Altenburg, den Bundesverband aufzulösen, war eher eine prosaische und sehr nüchterne Veranstaltung – den Umständen der Zeit geschuldet.

Was war nach 1990 geschehen? Der Kulturbund bekam als letzte der Massenorganisationen der DDR sein Vermögen zurück. Ein ambivalentes Vermögen – 1945 zugesprochen von der sowjetischen Sieger- und Besatzungsmacht, die mit Johannes R. Becher ihren Protagonisten im besiegten Deutschland wusste, um eine Kehrtwende im ehemals faschistischen Land mit einleiten zu helfen. Johannes R. Becher ging es um die Geisteshaltung, um das Denken der Menschen. Die Gründung des, seines Kulturbundes wollte und sollte bis spät in die 1970er Jahre humanistisch gesinnte, auf Völkerverständigung und Völkerfrieden hoffende Menschen zusammenführen – gleich welchen persönlichen Interessen sie nachgingen: als Literatur- und Kunstinteressierte, als Briefmarken-, Zinnfiguren- oder Münzsammler, als …

Humanismus, demokratisches Denken und Handeln in der Satzung des Kulturbundes waren der SED-Obrigkeit kein Garant für die Untertanentreue seiner Mitglieder. Es gab zahlreiche Versuche und Maßnahmen, sie zu vereinnahmen, einzelne auch für Spitzel­dienste zu gewinnen. In der Mehrzahl ist das nie gelungen. Kulturbundmitglied war man immer freiwillig, in den Gruppen ging man, oft unbeeindruckt von allem Außen-Rundum, den speziellen Interessen nach, traf und half sich, wann immer es nötig war. Trotzdem unterschied sich das innere Vereins­leben von dem in der Bundesrepublik bis 1990, wenn nicht in den eng fachlichen Dingen, so doch mit dem angestrebten (wenn auch nicht immer erreichten) interdisziplinären Ansatz. Und das alles eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch und eine demgemäße Wirkung. „Doch die Verhältnisse, die war’n nicht so“, wie es in einem Brecht-Song heißt. Es gab also auch ein äußeres Vereinsleben, und das war – mit den Jahren zunehmend – ein von der SED, das heißt von der herrschenden Partei, weitgehend bestimmtes und reglementiertes.

Heute, nach dreißig Jahren, muss aber gesagt werden, dass dies nur bedingt funktionierte: Viele Kulturbundmitglieder dachten mit, erkannten die Zeichen der Zeit und stellten ab Ende der 1970er Jahre Fragen zur Umwelt, zum „Dienst an der Waffe“ (Dienst in der Armee), zum sog. Wehrunterricht in den Schulen, zur Freiheit des Wortes u. ä. Man fand sich in größeren und kleineren Gruppen zusammen, um diese Fragen zu diskutieren und lud sich Gesprächspartner ein, die in der Öffentlichkeit einen Namen hatten. Man stellte aber auch gemeinsam Froschzäune auf, um die Tiere nicht von Autoreifen zermalmen zu lassen, forschte der Verrieselung der Abwässer aus den Röntgenabteilungen des Klinikums Berlin-Buch nach, demonstrierte und unterstützte vielerorts die kirchliche Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“. Die Mehrzahl der Vereinsmitglieder wollte am zwingend notwendig gewordenen gesellschaftlichen Umbruch in der DDR teilhaben.

Nach 1990 gab es in der Organisation mit etwa 100.000 Mitgliedern – wie überall – reichlich Personal- und Strukturänderungen. Auf Mitgliederbeschluss hielt man jedoch auch nach 1990 daran fest, dass es weiter ein Präsidium für den noch ostdeutschweit agierenden Kulturbund e. V. geben sollte. Schon 2019 hatte das Präsidiumsmitglied Dr. Gerhard Schewe darauf aufmerksam gemacht, dass diese Strukturen als überholt zu betrachten seien. Jede große oder kleine Kulturbundorganisation oder -einrichtung unter dem großen Dachverband, die bis dato alle Zeitstürme durchstanden hatte, ist abhängig von ihrer Region. Man muss dort auf allen Ebenen vernetzt und verankert sein, um die Existenz zu sichern. Bestes Beispiel dafür ist der Rennsteiggarten in Oberhof. Eine zentrale Leitung kann da wenig helfen. So zerstoben auch die Träume, das in Altenburg errichtete Kulturbund-Vereinshaus bespielen zu können. Ein kulturelles Zentrum war für die Einwohner geschaffen worden. Der Verein wollte sich dort in seiner ganzen Vielfalt präsentieren. Das älteste Gebäude der Stadt (1494 errichtet) war ab 2014 mit 1,5 Mio Euro saniert worden – ein Kleinod. Aber weder die Stadt noch der Kulturbund konnten und können es wirtschaftlich betreiben. Am sog. Brühl, im Zentrum, tobt kein Leben mehr. Der Gang vom prachtvollen Hauptbahnhof aus der Kaiserzeit zum Brühl 2 zeigt immer noch verlassene Häuser, zugenagelte Fenster, etwas Kleingewerbe, aber wenig Kreatives, wenig Kultur. Bereits im Vorfeld der Altenburger Delegiertenversammlung des Kulturbunds war man sich einig, dass Grundsätzliches für den Gesamtverein zu entscheiden sein würde. So kam es dann auch: Nach der Entlastung des Präsidiums wurde mehrheitlich beschlossen, das Objekt in Altenburg zu verkaufen und den Dachverband Kulturbund e. V. aufzulösen.

Nur ein schwarzer Tag für die Organisation? Nein, so wollten das alle Anwesenden nicht im Raum stehen lassen. Der Kulturbund besteht in seinen regionalen Strukturen und – vor allem – mit seiner Stiftung weiter. Der Erlös aus dem Hausverkauf wird – nach Begleichung aller Verbindlichkeiten – der regionalen Kulturbundarbeit, wie auch der Arbeit der Kulturbund-Stiftung zu Gute kommen. Es wurden vier Liquidatoren gewählt, um die Abwicklung des Dachverbandes vorzunehmen. Vor allem aber: Im Entstehen ist eine Gruppe, die eine Bundesarbeitsgemeinschaft ins Leben rufen wird, um koordinierte Kulturbundaktionen zu realisieren. Dieser Vorschlag des Kulturbund-Vorsitzenden Ralf Czajkowski aus Bad Hersfeld korrespondierte mit der Idee des Kulturring-Ehrenvorsitzenden Dr. Gerhard Schewe von 2019, machte allen das Herz leichter und fand ungeteilte Zustimmung.

„Stirb und werde“: Im Jahre 1817 schrieb Johann Wolfgang von Goethe sein Gedicht „Selige Sehnsucht“. Es handelt von der Metamorphose des Seins. Eine gedankliche Reise zu der Erkenntnis, dass nichts für ewig sein kann und alles im Wandel sein muss.

Letzte Worte Dr. Gerhard Schewes an die KB-Delegiertenversammlung am 28. August 2021 in Altenburg:  Nicht mehr als Vizepräsident des Kulturbunds wende ich mich an Sie, sondern – wenn es dieses Amt gäbe – eher als dessen Alterspräsident. Ich habe unlängst in den KulturNews davon erzählt, wie ich als frischgebackener Abiturient im August 1949 den Besuch Thomas Manns in der Goethestadt Weimar erlebte und dabei Johannes R. Becher kennenlernte, den Begründer unseres Vereins, der damals noch „zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ hieß. Ein paar Jahre später, als Student, wurde ich selber Mitglied. So war es mir vergönnt, die Geschichte des Kulturbundes mit all ihren Höhen und Tiefen quasi live mitzuerleben, mitzuerleiden, aber streckenweise auch mitzugestalten. An entsprechenden Erfahrungen fehlt es mir also nicht.
Heute ist der 28. August; unsere Versammlung fällt also mit Goethes Geburtstag zusammen: gewiss ein Zufall, aber vielleicht doch nicht ohne tiefere Bedeutung. Das goethische „Stirb und werde“ könnte nämlich durchaus auch als Motto über dieser Vereinsgeschichte aus Beginn, Niederlagen, Krisen, Wandel und Neubeginn stehen. Es ging immer irgendwie weiter, was dann unglücklicherweise die Illusion nährte, dass das auch in aller Zukunft so bleiben würde. Wir wähnten uns zu lange in einer trügerischen Selbstgewissheit; das dialektische Entwicklungsgesetz des „Stirb und werde“ schien außer Kraft gesetzt zu sein. Damit ist jetzt Schluss, die Fakten sprechen ihre eigene Sprache. Der Kulturbund e.V. steckt in der Krise, und es ist meines Erachtens weder möglich noch nötig, ihn als Dachverband unbedingt am Leben erhalten zu wollen. Seine historisch notwendige Zeit ist abgelaufen, er mag sterben. Nicht sterben wird hingegen die Kulturbund-Idee des engagierten Mittuns; im Gegenteil: sie wird nach wie vor vielerorts aktiv und erfolgreich gelebt. Ob das so bleibt, oder ob sich aus der Krise durch einen grundlegenden Wandel vielleicht sogar ein neuer Werde-Impuls entwickelt, hängt ganz von dem heutigen Treffen ab. Es ist dies keine Routineveranstaltung, sondern eine außergewöhnliche, die auch außergewöhnliche Entscheidungen zu treffen hat. Jeder Delegierte muss sich dessen bewusst sein.

(red. gekürzt)

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