Klein, wach und lebendig

Dr. Gerhard Schewe

Zum 140. Geburtstag: Persönliche Erinnerungen an den Gelehrten Victor Klemperer

Ich hatte an meiner Schule im märkischen Zossen einen Deutschlehrer, dem ich sehr viel verdanke, auch meine erste Begegnung mit Victor Klemperer. Für ihn war Literatur vor allem ein Mittel zum Verständnis unseres krisenhaften Jahrhunderts. Diese Sicht wollte er auch seinen Schülern vermitteln, und so lernten wir bei ihm Autoren und ihre Werke kennen, die in keinem offiziellen Lehrplan standen.

Eines Tages – es wird 1948 gewesen sein – brachte er ein Buch mit dem rätselhaften Titel „LTI“ und dem für uns kaum schlüssigeren Untertitel „Notizbuch eines Philologen“ mit in die Klasse. Es war 1947 im Aufbau-Verlag erschienen und kostete 7,50 Mark: viel Geld in jenen Notzeiten. Ich kaufte es trotzdem, las es einmal, zweimal. Für einen jungen Menschen wie mich, der seine persönlichen Erfahrungen mit Krieg und Faschismus noch nicht so recht einzuordnen vermochte, stellte das Buch eine Offenbarung dar. Die Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches, war von der Generation unserer Eltern und Lehrer natürlich nie kritisch reflektiert worden, von uns auf Orthografie und Grammatik fixierten Schülern schon gar nicht. Man nahm sie hin, benutzte sie als etwas Gegebenes und merkte gar nicht, wie sehr sie die Vernunft zerstörte, das eigene Denken ausschaltete und durch manipulierte Formeln ersetzte. Diese Methode der Machtausübung durch Sprache hat Klemperer in so nachhaltiger Weise dokumentiert, dass in seinen aus Gesprächen, Zeitungen, Reden, Plakaten zusammengetragenen Belegen zugleich auch das gesamte Herrschaftssystem des Faschismus sichtbar wurde. Ein höchst notwendiges Buch!

Meinen späteren Studienwunsch Romanistik hat es sicher nicht beeinflusst, seinen Verfasser aber wollte ich schon kennenlernen, als ich 1953 an dem seinerzeit von ihm geleiteten Institut immatrikuliert wurde. Und das geschah so: ein überfüllter Hörsaal im teilweise noch kriegszerstörten Hauptgebäude der Humboldt-Universität, Studierende fast aller Fakultäten, das angekündigte Thema – Rousseaus „Bekenntnisse“ – interessierte nur die Wenigsten, man wollte ihn hören, erleben. Er war klein, wach und lebendig, wenngleich gebeugt unter der Last seiner über 70 Jahre und seiner leidvollen Erfahrungen. Stets vermeinte man, hinter ihm das Dresdener Judenhaus zu sehen, die Bombennacht, die Flucht. Er sprach leise, ohne Manuskript, alle hingen an seinen Lippen. Und dann entstand vor unserem geistigen Auge Schritt für Schritt, Schicht um Schicht das Bild einer Weltepoche oder einer großen Persönlichkeit, ein Konstrukt sich spiegelnder Facetten von Geschichte, Kunst, Sprache, Psychologie, Religion. Niemand konnte sich der Faszination eines solchen Vortrags entziehen.

Auch in anderer Hinsicht erschien uns Klemperer als Vorbild. Wir wussten um seine Ämterfülle im akademischen, politischen und kulturellen Leben der DDR und schätzten es, dass er trotzdem Zeit für seine Mitarbeiter und Studenten aufbrachte, auch wenn er keine Sprechstunde hatte. Nicht wissen konnten wir damals, dass er sich politisch oft als „zwischen allen Stühlen“ sitzend empfand, das war erst aus seinen postum veröffentlichten Tagebüchern zu erfahren.

Victor Klemperer (9.10.1881 – 11.2.1960)
„Es fallen so viele rings um mich, und ich lebe noch. Vielleicht ist es mir doch vergönnt zu überleben und Zeugnis abzulegen“ – und es war ihm vergönnt. Denn der von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft des Amtes enthobene Klemperer wurde vor allem durch seine umfassenden Tagebücher bekannt. Die unter dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ im Jahr 1995 postum veröffentlichten Aufzeichnungen dokumentieren eindrucksvoll die Judenverfolgung im Dritten Reich. Klemperer wurde in Landsberg an der Warthe geboren und studierte Philosophie, Germanistik und Romanistik in München, Genf, Paris und Berlin. Nach der Promotion und der Habilitation ging er als Lektor nach Neapel. 1920 folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl für Romanistik der Technischen Hochschule Dresden. Obwohl Klemperer bereits im Jahr 1912 vom Judentum zur protestantischen Konfession konvertiert war, enthoben ihn die Nationalsozialisten 1935 seines Amtes als Universitätsprofessor. Kurze Zeit später wurde er aus seinem Haus in Dresden vertrieben. Eine versuchte Emigration scheiterte. So schrieb er heimlich an seinen Tagebüchern. Nach Kriegsende wurde Klemperer Mitglied der KPD und lehrte an den Universitäten in Greifswald und Halle. Das Institut für Romanistik der Humboldt-Universität leitete er von 1951 bis 1954. Er starb im Februar 1960 im Alter von 78 Jahren.

Erstveröffentlichung des Beitrags in der Zeitschrift „Humboldt“ der HUB vom 11. Februar 2010.

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