Gefühle gewinnen Gestalt

Martina Pfeiffer

Dabei bei der Langen Nacht: Tijana Titins gemaltes Kaleidoskop menschlicher Beziehungen

Von weitem sind es Farbklänge in Pastelltönen, die in ihrem Schillern und Verschwimmen an Monets Reflexlandschaften erinnern. Tritt man näher heran, lassen sich inmitten des Seerosenteichs jedoch Details von Körpern und Gesichtern ausmachen – poetische Figurationen voll lyrischer Zartheit und Duftig­keit. Sie erinnern an das Liebespaar „Daphnis und Chloé“, wie bei Marc Chagall bildlich festgehalten. In diesem „unbeschwerten Ich-krieg-dich-schon“ – so die freie Übersetzung der Künstlerin von „Delightful Getaway“ – schafft Tijana Titin die Vorstellung einer modernen Schäfer­idylle. Ihr gelingt damit die Bewahrung von Vorbildern und zugleich deren Überschreitung in einer eigenständigen Neuaussage.

Die Komposition in einer Reihe von Titins Werken lässt die Illustrationen von Dantes „Göttlicher Komödie“ in der Frührenaissance, etwa durch Giovanni di Paolo, anklingen. Die leuchtende Farbgebung und die Motivik leisten hier maßgeblich ihren Beitrag. Allerdings ohne die das Dasein ummantelnde Glaubensaura. Gefühle gewinnen Gestalt: Das feinnervige Kaleidoskop menschlicher Beziehungen setzt die Künstlerin gegen jeden rechnerischen Rationalismus. Sie versammelt Legionen von Nähe und Berührung, von Freude und Orientierung suchenden, nach Erlösung oder was auch immer strebenden Seelen. Dem bunten Gewimmel ist bei sorgfältigem Hinsehen Struktur und Präg-nanz verliehen: Durch die gestaltete Nähe und Distanz der Figuren zueinander, Zentral- und Randposition, Größenverhältnisse, durch Richtungsdynamik und Achsenbeziehungen – aufrecht, waagerecht, emporstrebend, fallend, verschlungen, separiert – trifft die Malerin ihre Aussage über die Natur der zwischenmenschlichen Interaktion. Die Formen verschmelzen oder grenzen sich ab. Menschen, voneinander angezogen, ineinander versunken, miteinander ringend, voneinander entsetzt, einander abstoßend: Die Intimität der Bildsituation wird unterstützt durch die teilweise Unverhülltheit der Figuren.

Titel und Präsentationsinhalte bei Titin liefern Hinweise auf die durch Training verstärkte Gabe einer untrüglichen Detailbeobachtung. Mit ihren Betrachtungen des Menschlich-Allzumenschlichen tritt die Künstlerin nach eigenen Worten an, „individuelle Erfahrungen auf eine höhere Ebene zu transponieren und damit universelle Wahrheiten auszudrücken“. Und das nicht allein in Form einer Schäferidylle. Ihr „Versteckspiel“ (Originaltitel: „Hide and Seek“) enttarnt die Getarnten: Venezianische Masken liegen wie zufällig verstreut umher und verweisen auf ihre Träger. Diese haben sich entweder aus dem Staub gemacht oder sind zu eben diesem geworden. „Dialogue“ thematisiert die Sackgassen der Kommunikation. Die Dialogführenden tauchen wortwörtlich ab, verabschieden sich von dem, was das Zwiegespräch ausmacht. Die Darstellung lässt auf harsche Gesten der Gesprächsverweigerung und auf trennende Zwistigkeiten schließen.

„Als meine Mutter meinem Vater ein Buch über die Kunstsammlung von São Paulo schenkte, fiel das Geschenk bei meinem Vater durch. Ich aber war seitdem gefesselt vom Betrachten der gesammelten Weltkunst in diesem Buch, vor allem von den Alten Meistern Michelangelo, Tizian, Tintoretto und Rubens. Damals war ich zwei. Mit fünf Jahren habe ich dann meine Mutter in Erstaunen versetzt, als ich fragte: Wie wäre es, wenn ich Malerin würde?“ Das eigentliche Erweckungserlebnis stellte für Titin die Reise nach Venedig mit 22 Jahren dar. In der Lagunenstadt traf die junge Serbin auf eben alte Bekannte: Tizian und Tintoretto, die Maler des „Goldenen Zeitalters“. Seit dieser Zeit ist sie von der Idee ergriffen, Ansichten von Deckenfresken in ihr Werk einzubinden, welche perspektivisch die Illusion eines grenzenlosen Raums, eines offenen Himmels erzeugen.

Fünfzehn Jahre ist es her, seitdem die nun 39-Jährige von der Donau an die Spree wechselte. Berlin sei für sie – nach New York – die Kunstmetropole schlechthin. Die Stadt biete Künstlern ein Optimum an Entfaltungsmöglichkeiten. „Was mich schon seit meinen Anfangszeiten in Berlin in Beschlag nahm, ist die Idee einer Ineinsnahme von Goyas Gesichtern der unheimlichen Schwarzen Gemälde mit der Starkfarbigkeit von Matisse“, wie in „All the Sleaze and Unease“ umgesetzt (dt.: „All der Schmuddel, all das Unbehagen“, T.T.). In anderen Werken greift sie Max Beckmanns kantige Formensprache auf und bettet diese in die eigene Bildgestaltung ein. In weiteren Arbeiten bezieht sie sich auf die bis ins Feinste verästelten Greuelphantasien eines Hieronymus Bosch – auf das, was Menschen Menschen antun. In „Lifeboat“ („Rettungsboot“), ihre persönliche Auseinandersetzung mit der Flüchtlingskrise 2015/2016, dominieren extreme Befindlichkeiten wie Angst und Verzweiflung, eine aus den Fugen geratene Welt. „Natürlich bin ich auch von Krieg und Untergang geprägt. Ich war 10 Jahre alt, als der Krieg in Serbien anfing und 17 bei der Bombadierung aus der Luft. Ich habe erlebt, wie mein Vater in den Krieg ziehen musste.“

Bei aller Bewunderung für den britischen Maler Francis Bacon strebt die Künstlerin doch nie das Verstörende von Bacons Deformationen an. In „All the Sleaze and Unease“ ist die Mimik zwar verzerrt, und alle Beteiligten scheinen sich in einem Zustand der Disharmonie und des Aufruhrs zu befinden. Und in „Dissolve“ („Auflösung“) greift die Zersetzung um sich. Nirgends aber driften die Bilder Tijana Titins vollends in die Radikalität monströser Verzerrung und Fratzenhaftigkeit. Und so belässt sie den auf ihren Leinwänden dargestellten Figuren dennoch und durchgängig ein Zeichen setzendes Maß an Würde und Integrität.


Tijana Titin ist in Zrenjanin, Serbien, geboren. In ihrem Herkunftsland schloss sie das Studium der Bildenden Kunst mit dem Diplom ab. 2006 kam sie mit einem Regierungsstipendium Serbiens nach Berlin und studierte von 2007–2010 Malerei an der Universität der Künste Berlin. 2010 war sie Meisterschülerin der UdK. Zahlreiche Ausstellungen folgten. Tijana Titin nutzt Mischtechniken: Acrylgrundierungen, die mit Öl übermalt werden, vor allem aber Ölmalerei, Wasserfarben oder Ölpastellkreide mit Tuschezeichnungen. Die Künstlerin bevorzugt großformatige Bilddarstellungen, da sie dadurch das Gefühl habe, „im Bildgeschehen in voller Lebensgröße mit dabei sein zu können“. Mit dabei ist sie auch in diesem Jahr wieder an der Langen Nacht der Bilder. Ihre vielschichtigen Neuausdeutungen alter Meister zeigt sie am 03.09.2021 in ihrem Atelier in Haus Y,  Genslerstraße 13, Studio 404. Ein zweites wichtiges Event: Unblockfairartfair, vom 10.–12.09. und vom 17.–19.09., ebenfalls in ihrem Studio.
www.tijanatitin.com, www.unblock.berlin

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