Schlaraffenland für Bücherwürmer

Jürgen Keller

20 Jahre Medienpoint Pankow

Vor zehn Jahren überschrieb Inge ­Thormeyer ihren Artikel in den Kultur News mit den Worten: „10 Jahre Medienpoint Pankow – Alles normal?“ Diese Frage hat von ihrer Evidenz in den letzten zehn Jahren nichts verloren, und seit Anfang 2020 verlangt sie umso mehr tägliche Antworten von allen Mitarbeitern des Medienpoints in Pankow.

Am 9. Juni 2001 wurde der erste Medienpoint des Kulturrings eröffnet, genau an der Ecke, an welcher sich Senefelderstraße und Hidden­seer Straße treffen. Die Kirschbäume in der Hid­den­seer blühen all die Jahre, und zur Reife zwingen ihre Früchte die Besucher auf dem Wege zu dem Eckladen mit den hohen Fenstern zu einem etwas vorsichtigeren Gang. So dicht, wie dann die Kirschen auf der Straße liegen, stehen das ganze Jahr circa 9.000 Bücher, Filme und Tonträger in den Regalen hinter den hohen Fenstern mit den bunten Bücherkisten auf den Fensterbänken. Auf 52 Quadratmetern können sich Menschen mit geringem Einkommen, Kinder und Jugendliche sowie soziale Einrichtungen kostenlos mit Büchern, Filmen, Spielen und verschiedensten Tonträgern versorgen. Die Bücher in den Regalen und alle anderen Medien sind Spenden, die von den Mitarbeitern entgegengenommen und kostenlos weitergegeben werden. Und Mitarbeiter, ohne deren Arbeit der Medienpoint nicht existieren könnte, gab es viele in den letzten zwei Jahrzehnten. Stellvertretend seien nur einige genannt. Stephan Butt begann am Anfang, die Regale mit Büchern zu füllen, Alexia Sauter und Inge Thormeyer waren viele Jahre die guten Seelen für die Bücherfreunde im Kiez, und mit Manfred Machwitz begann der Aufbau der Berlin-Bibliothek, dem Alleinsstellungsmerkmal.

Wie bei jeder guten Aufführung geschehen hinter der ­Bühne, in den Kulissen, Dinge, von denen der Zuschauer nichts ahnt und weiß. Nicht anders im Medienpoint Pankow. Bei der Berlin-Bibliothek, dem bereits erwähnten Alleinstellungsmerkmal des Medienpoints, handelt es sich um ein Projekt, an welchem über viele Jahre hinweg zahlreiche Mitarbeiter beteiligt waren und immer noch sind. In den Jahren seit der Eröffnung machten sie immer wieder dieselbe Erfahrung: Medien mit Inhalten zu Berlin waren sehr beliebt und kaum in den Regalen einsortiert, schon wieder weg. Aber die Nachfrage nach ihnen wurde nicht weniger. So entstand die Idee, sie alle vor Ort zu halten und mit ihnen eine Präsenzbibliothek einzurichten. Bücher, Zeitschriften, ­Kataloge, Periodika und ­dergleichen mehr haben bis heute die stattliche Zahl von fast 4.000 erreicht. Evelyn Fuhrmann und Peter Quast erfassten seit 2015 alle Titel und pflegten sie in eine Datenbank ein, die von Sven Kruschke dafür entwickelt wurde. Im Medienpoint schuf man einen ­Terminal, von welchem aus der Zugriff  auf diese Datenbank möglich ist.

Zwischen den Bücherregalen treffen sich die Menschen aus dem Kiez. Trafen, ist man fast versucht zu sagen. Denn Corona stellt die oben erwähnte Frage der Normalität jeden Tag auf’s Neue. Die Hygienebestimmung hat die Besucherzahl auf maximal zwei gleichzeitig reduziert. Das wird sich wieder ändern. Aber bis dahin kommt den Bücherkisten auf den Fensterbänken eine gewichtige Rolle zu. Von Weitem kann man sehen, der Medienpoint ist geöffnet, die Kultur hat den Standort nicht aufgegeben!

Aber auch in den Fensterauslagen finden sich zu aktuellen Jubiläen, Geburtstagen und Ereignissen in Kunst und Kultur immer wieder interessante Beiträge und Informationen, die bereichern und Anlass zum Verweilen und Betrachten geben. Aktuell wird natürlich gestalterisch der 20. Geburtstag des Medienpoints gefeiert. Und der 75. Jahres­tag der Gründung der DEFA wurde zum Thema der alternierenden Fenstergestaltung. Nicht genug. „100 Jahre Berlin“, „30 Jahre Mauerfall“, „Fundstücke aus Büchern“ seien genannt als Themen aus der Vielzahl von Ausstellungen, welche die Besucher bei ihrer Wanderung zwischen den Büchern präsentiert bekommen haben.

Die Jahre verstreichen, und der Kiez verändert sich. Auch im Inneren des Medienpoint Pankow blieb die Zeit nicht stehen. Im Mai 2017 entfernten die Mitarbeiter den über die Jahre stark gedunkelten Teppichbelag. Zum Vorschein kam ein heller Fußboden, der den Raum viel größer erscheinen lässt, als er wirklich ist. Eine kleine Leseecke wurde eingerichtet. Besucher, die länger in den Büchern blättern wollen, können sich in ihr niederlassen. Auch liegt da ein Gästebuch aus, in welchem man nachlesen kann, wie erfreut und dankbar die Menschen über die Existenz des Medienpoint Pankow und über die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter sind. Es ist bereits das zweite. Das vorherige muss ein Besucher mitgenommen haben, der wohl sehr an einem Eintrag von Ilja Richter interessiert gewesen war. Autogrammjäger darf man nicht unterschätzen, war das Resümee.

Langjährige Mitarbeiter des Medienpoints, die bereits im Unruhestand angelangt sind, halten ihm oft noch die Treue. Möglich wird dies durch den Bundesfreiwilligendienst oder durch eine ehrenamtliche Tätigkeit. Ingrid Landmesser entschied sich nach vielen Jahren ihrer Tätigkeit als Zeitchronistin im Kulturring für das Ehrenamt. Ihre Arbeit und ihr Engagement erschufen über die Jahre fast wie nebenbei ein Netzwerk durch die breite Verknüpfung von Einrichtungen des Kulturrings, des St. Elisabeth-Stifts, des MACHmit! Museums für Kinder und vieler anderer Orte, die für Menschen eine soziale und kulturelle Bedeutung haben. Auf ihrem Schreibtisch in der Senefelderstraße stapeln sich besondere Bücher, Schallplatten oder DVDs, welche von den Mitarbeitern des Medienpoints für sie gesammelt werden. Den Seniorinnen und Senioren des St. Elisabeth-Stifts kann Ingrid Landmesser damit immer wieder eine große Freude bereiten.

Bis zum Ausbruch der Pandemie hatte der Medienpoint Pankow auch Besuch von Zwergen, den „Schreibzwergen“. Kinder einer Tagesstätte trafen sich unter der liebevollen Betreuung von Sabine Wang. „Buchi“, Sabine Wangs Geschichtenbär, erzählte und erzählte, und die Kleinen malten dazu bunte Bilder. Aus den Geschichten und den vielen Bildern entstanden zwei gedruckte Büchlein. Es besteht die große Hoffnung, dass dies eines Tages wieder möglich sein wird.

Der Medienpoint Pankow wurde nach seiner Eröffnung als erster Medienpoint des Kulturring in Berlin zu einer Art Vorbild. Ihm folgten Spandau und Reinickendorf. Heute können sich, über die ganze Stadt verteilt, die Berliner bereits in acht dieser Einrichtungen mit der so notwendigen geistigen Nahrung versorgen. Vor zehn Jahren war die Verdrängung von Altmietern im Kiez das Thema, dem sich auch der Medienpoint stellen musste. Bücherstuben im Bezirk Pankow und anderswo mussten schließen. Unter diesem Eindruck schrieb Inge Thormeyer ihren Artikel. Heute sind überall die weltweiten Auswirkungen einer Pandemie zu spüren. Was hätte Inge Thormeyer dazu geschrieben? Das weiß keiner. Inge Thormeyer arbeitete seit 2006 im Kulturring als journalistische Mitarbeiterin in Projekten wie „pro regio Pankow“, „Orte und Persönlichkeiten Pankow“ und vielen anderen. Im Medienpoint Pankow gehörte sie, wie sie selber sagte, fast zum Inventar. Hier war sie bis Januar dieses Jahres im Bundesfreiwilligendienst tätig, offen für alle Fragen der Besucher. Als gelernte Journalistin, mit ihrem Wissen, ihrer Bildung und ihrem Charisma war sie eine immerwährende Bereicherung für alle, die mit ihr arbeiteten. Und ihr Lachen war nie zu überhören. Inge Thormeyer verstarb am 13. Mai 2021 nach kurzer, schwerer Krankheit im 73. Lebensjahr.

Was werden die nächsten zehn Jahre bringen? Das kann niemand sagen. Aber eine große Freude wird schon sein, wenn Norma­lität eintritt, die als solche gar nicht wahrgenommen wurde. Wenn kein Besucher mehr klingeln muss, und die Eingangstür des Medienpoints den ganzen Tag weit offen stehen kann. Das ist schon sehr viel. Und die Kirschbäume werden wieder blühen.

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