Sichtbar machen, was das Auge kaum erfasst

Martina Pfeiffer

Hajo Blanks Fotokunst und der Mut zur Utopie

„Tolles Atelier, aber wo wohnen Sie eigentlich?“, fragte unlängst ein Besucher den Fotokünstler Hajo Blank. Die Antwort, ebenso lakonisch wie präzise: „Genau hier wohne ich!“ Und hier, zwischen den teils großformatig die Wände bedeckenden, teils in Gruppen angeordneten kleineren Arbeiten, hat der Berliner Fotokünstler sowohl seinen Arbeitsplatz, als auch seine Wohnstätte.

Einige Arbeiten, die Hajo Blanks Wohn­atelier in unverwechselbarer Weise prägen, verändern sich bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen oder je nach Blickwinkel beim Vorübergehen. Die Belichtung gebürsteter Aluminiumoberflächen, so erfahre ich, sorgt für den besagten Effekt. Bei seinen Ideen, wie auch bei deren Umsetzung, schöpft der Bildkunst-Designer aus seinen Erfahrungen in unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen. In vielen seiner Werke wird ein Prinzip, eine Haltung erkennbar: dynamisches, nachhaltiges und ergebnisoffenes Denken und ein Aufgeschlossensein für Utopien.

Die Wirklichkeit mit einem getreuen Abbild dokumentieren zu wollen, liegt dem gebürtigen Brandenburger fern. Mit dem Zwang des Faktischen will er sich nicht abfinden. Vielmehr macht er sich daran, die ihn umgebende Realität durch künstlerische Eingriffe vielfältig erlebbar werden zu lassen: „Ich nutze das Ursprungsfoto als fotografisches Rohmaterial, bearbeite es so lange, bis es meiner Gestaltungsidee entspricht. Bildausschnitt, Bildwinkel, Format, Farbe, Kontrast und Komposition werden verändert. Harmonie, Rhythmus, Intensität, Verteilung von Form und Farbe folgen einer Gestaltungsabsicht. Der Unterschied zwischen freikünstlerischer Darstellung und Fotografie wird auf diese Weise unscharf, scheint aufgehoben.“ Fotokunst kann sichtbar machen, was das Auge im alltäglichen Sehmodus kaum erfasst. Damit enthüllt sich etwas, was mit Objektivität, mit naturgetreuer Abbildung alleine nicht zugänglich ist.

Die so geschaffenen Neuinszenierungen haben wenig mit traditioneller Fotografie gemeinsam. Die neu in „Szene“ gesetzte Wirklichkeit eröffne dem Betrachter alternative Assoziationen und Bedeutungsvarianten. Dabei spielt Hajo Blank mit den Grenzen unserer Erfahrungswirklichkeit: „Das, was uns umgibt, ist weitaus mehr, als wir wahrnehmen. Und jeder sieht durch seine individuelle ‚Brille‘ anders, etwas Anderes. Wir haben vororientierende Filter vor den Augen, die unsere Wahrnehmung beeinträchtigen. Durch vielfältige Erfahrungen, Denkmuster, Vor- und Leitbilder, aber auch Erwartungen und Ängste wird unser Sehen und Denken stark beeinflusst. Offener und freier der Wirklichkeit zu begegnen, kann kreatives und selbstwirksames Handeln befördern.“

Auch scheinbar Unbedeutendes und Banales rückt Hajo Blank in den Blick. Nichts ist ihm zu gering, um es in Form eines Bildmotivs zu würdigen. Stets geht es darum, starre Denkschemata und Sehgewohnheiten zu durchbrechen. Beispielsweise mit „Apate“, aufgenommen an der Costa Verde in Asturien: Felsen, die aus dem Wasser hervorragen, erfahren, weil gedreht, eine Verfremdung. Diese auf den Kopf gestellte Welt generiert wiederum bedeutungsvolle Offenheit. Im Fall von „Quirinus“ handelt es sich motivisch um eine Wasserspiegelung, deren Ausschnitt verändert wurde. „North Star“ visualisiert die Spiegelung eines Bootsrumpfes in den Wellen der Havel bei Brandenburg. In der Nachbearbeitung wurde die Fotografie farblich optimiert.

Mit seinen „fotostracts“ und „fotofantastics“, die er in der anstehenden Ausstellung „Anders Sehen“ präsentieren wird, lädt der Fotokünstler zu einem erweiterten Sehen und Empfinden ein – mehr noch: zu einem ganzheitlichen Denken im Einklang mit den großen Kreisläufen der Natur. Die seinen Fotografien zur Seite gestellten assoziativen Einlassungen, insbesondere auch zum störanfälligen und daher schutzbedürftigen Beziehungsgeflecht Mensch-Natur, sind von einer Gedankendichte, die Energien zu entfesseln und Utopien freizusetzen vermögen: „Wer und was wollen wir sein? Welchen Sinn wollen wir uns geben? In was für einer Welt wollen wir leben? Es ist unsere Aufgabe, Fortschritt, Wohlergehen, sinnvolle Lebensinhalte und Glück neu zu definieren und unser Mensch-Natur-Verhältnis harmonisch zu gestalten. Dazu bedarf es eines Systemwandels mit moralischen Orientierungen, jenseits von Gier, Hypermacht und Diktat.“ Kunst kann Wandlungsprozesse begleiten und durch das gleichzeitige Erfassen unterschiedlicher Sinneseindrücke inspirierend wirken. Dringt sie unter die Oberfläche des Faktischen, wie Hajo Blank dies anschaulich macht, dann kann sie über das Zusammenwirken von Intuition und Verstand ein umfassendes Erkennen ermöglichen und dabei tiefere Wahrheiten zum Ausdruck bringen.

Gleich zu Anfang hatte Hajo Blank mich vorbereitet, dass er in unserem Gespräch weniger Antworten geben als vielmehr Fragen stellen werde. Dabei scheut er sich nicht, gesellschaftliche Defizite zu benennen und Veränderungspostulate aufzustellen: „Unser Gesichtssinn hilft uns beim Aufspüren von Nahrung, bei der Partnersuche, beim Konsumieren und für eine Rundum-Bespaßung. Aber reicht das für ein glückliches und sinnhaftes Leben und für ein Überleben unserer Spezies aus? Werden wir in Zukunft nicht mehr Realitätssinn, Vorstellungskraft und Fantasie benötigen? Fantasie für Visionen, für grundlegende Neuordnungen, auch unseres Bewusstseins?“

Im Nachgang zu unserer Unterhaltung besinne ich mich auf das laut Hajo Blank für Kreativität unerlässliche Dreierlei: Aufnahmebereitschaft für Unbekanntes, die Freiheit der Vorstellungskraft, Mut gepaart mit Zuversicht. Von Blanks Werken können sich die Besucher der Ausstellung „Anders Sehen: Fotografie & Texte von Hajo Blank“ vom 7.6. bis 13.8.2021 in der Kulturküche Bohnsdorf ihr eigenes Bild machen. Und wie in den vorangegangenen Präsentationen des Bildkunst-Designers dürften auch die hier vorgestellten Exponate den Schaulustigen verblüffende Deutungsspielräume eröffnen.

Hajo Blank, aufgewachsen in Leegebruch/Brandenburg, studierte Kunst und Design an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Er arbeitete als Produkt- und Kommunikationsdesigner mit den Schwerpunkten Zukunftsdesign und Designtheorie, als Szenograf, Ausstellungsdesigner und als Bildender Künstler. Studienreisen führten ihn nach Äthiopien, China, Guatemala, Indien, Malaysia, Marokko und Peru. Als Autor, Illustrator und Fotokünstler veröffentlichte er in 15 Verlagen mehr als 50 Bücher. Sein neues Fotobuch ist in wenigen Wochen druckreif.

Archiv