Malerei erlaubt mir, ein Chamäleon zu sein

Pablo Griss

SONAR – Konkrete Malerei

Durch Malerei erforsche ich die visuellen Möglichkeiten der Energie und ihrer Qualitäten: Magnetfelder, Strahlung, Resonanz, Ströme und elektromagnetische Wellen. Diese Phänomene sind für mich als abstrakte Konzepte von Interesse, seit ich sie in meinem Studium der Ingenieurs- und Angewandten Wissenschaften an der Columbia University in New York kennengelernt habe. Mein Ziel ist es weder, sie in der Malerei zu illustrieren, noch sie als physikalische Prozesse zu erklären oder sie als eine schematische Interpretation oder eine Gleichung zu verstehen.

Ich bin daran interessiert, wie diese physikalischen Phänomene mit meinen inneren existentiellen Überlegungen in Verbindung stehen. Genau betrachtet, spiegeln die meisten unserer Verhaltensweisen diese metaphysischen Konzepte wider. Sie durchdringen meine Malerei mit jenen Fragen, die in mir leben und sich auf das Leben selbst beziehen. Ich denke darüber nach, was jenseits des Materiellen geschieht. In meiner Arbeit werden Kontraste wie Schwarz und Weiß genauso auf der Netzhaut synthetisiert und auf der Oberfläche des Gemäldes gezeigt wie Wiederholung und Symmetrie als Bild eines „magnetischen Feldes“: Schwingungen, die jenseits von bloßen visuellen Effekten selbst das Phänomen sind. All diese elektrischen Ströme übersteigen meinen Körper und manifestieren sich in dem Gemälde. Wir sind Wesen in einer materiellen Welt, in der diese Phänomene Teil von uns und unseren Interaktionen sind.

Mein Verhältnis zum Negativraum (verstanden als Umraum der positiven Figur) ist obsessiv, denn er erweitert die multidimensionalen Möglichkeiten meiner Arbeit. Am Anfang überschattet das Objekt den auf subtile Weise kraftvollen Negativraum. Aber dieser Negativraum öffnet neue Fenster der Wahrnehmung auf einer unbewussten Ebene und schafft eine transzendentale Erfahrung über eine typische Figur und einen typischen Hintergrund hinaus. Der Negativraum lädt uns durch seine Obskurität zu einem anderen Ort ein, dort können wir träumen oder nachdenken. Er erlaubt uns zu reisen und das Bild zu mehr als einer Darstellung einer Idee oder eines Themas zu machen. Manchmal offenbart ein Bild erst spät, wo sich der Negativraum und wo sich der Positivraum befindet; eine Annullierung von Raum ist also nicht möglich. Diesen Raum zu entfalten, ist entscheidend für meine Suche als Maler. Hier sind die Antworten, die der Dialog mit der Malerei bietet, zuhause. Ich glaube fest an die Macht der ontologischen Transformation, die die Malerei bietet. Diese Transformation wird nicht durch Antworten ausgelöst, sondern durch die Fragen, die das Gemälde aufwerfen kann.

Ich vermeide es, den Betrachter in einer bloß eitlen dreidimensionalen Darstellung mit Mitteln wie Chiaroscuro (Hell-Dunkel-Malerei) oder Horizonten mit Fluchtpunkten zu fangen. Ich bevorzuge es, durch eine konkrete Form das Gefühl der Mehrdimensionalität hervorzurufen, indem ich andere Ebenen eröffne, die nicht als physische Ebenen zu verstehen sind, sondern eher als Übergang zu anderen Realitäten.

Abgesehen von den technischen Aspekten und der digitalen Erscheinung gibt es ein Element in meiner Arbeit, das dem Bild Leben einhaucht, vielleicht auf poetische Weise, indem es versucht, sich von den formalen graphischen Strukturen zu lösen. Ich genieße es, diese unerforschten Dimensionen zu bereisen. Wenn die Malerei nicht mehr von den üblichen Elementen der Illustration, der Verwendung von Koordinaten oder der Obsession mit dem Objekt beherrscht wird, ist das der Moment, in dem Malerei epische Bedeutung erlangt …

Die Evolution meiner Arbeit ist auf natürliche Weise entstanden. Die tägliche Beobachtung mit einem konstruktiv kritischen Ansatz, die Einbeziehung von Möglichkeiten anstatt ihrer Ablehnung, das ist ein Prozess, in dem ich ständig über meine Arbeit nachdenke und sie kontinuierlich weiterentwickle. Ich verstehe die Malerei als einen Weg zum Wachsen des Selbst, der mir Antworten bietet, die ich auf der Ebene meines Erlebens nicht finde. Sie ist eine Reflexion des Lebens, vielleicht ein Produkt dessen, was ich bin, was ich in diesem Moment bin und wie ich mich in der Zukunft sehe. Die Malerei erlaubt mir, ein Chamäleon zu sein und mich endlos zu verwandeln. Vielleicht ist die Malerei auf egomonografische Weise meine Vorstellung vom Schreiben.

Ich erstelle die Geometrien vorsichtig, um nicht in „graphischen Manierismus“ zu verfallen, mein Interesse konzentriert sich auf die Werte, die poetisch durch Malerei vermittelt und transzendiert werden können. Meine Malerei ist eine starke Präsenz, die keine wörtliche oder konzeptuelle Erzählung bietet. Sie beschränkt sich nicht auf die Oberfläche, sondern umfasst viel mehr. Ja, es ist eine zweidimensionale Oberfläche, aber sie hat die Fähigkeit, den Beobachter zu anderen ungewöhnlichen Ebenen außerhalb der bekannten Realität zu bringen. Und hier zeigt die Malerei ihren größten Wert: Wenn sie uns von innen heraus transformiert.

Vernissage: 21. Mai, 14 bis 21 Uhr
Laufzeit: 22. Mai bis 25. Juni 2021

GISELA Freier Kunstraum Lichtenberg
Giselastraße 12, 10317 Berlin
+49 30 51 65 6005

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