Der 22. Juni

Dr. Gerhard Schewe

In meinen Kindheitserinnerungen kommt der 22. Juni, mit der einen Ausnahme, nicht vor. Es war der Tag nach dem Geburtstag meiner Mutter, der, wie immer, seit wir in Dabendorf wohnten, mit der „germanischen“ Sonnenwendfeier ausklang, oben auf dem Kiesberg, wo wir im Winter rodelten. Die Ausnahme betrifft den 22. Juni 1941. Zweites Kriegsjahr, der letzte Blitzsieg lag erst ein paar Wochen zurück: die Eroberung von Kreta. Jetzt also neue Schlachtfelder, neue Sondermeldungen.

Seltsamerweise saßen die Geburtstagsgäste trotz der späten oder schon frühen Stunde noch beisammen, als die Nachricht vom Einmarsch in die Sowjetunion wie eine Bombe hereinplatzte. Damit hatte nun wirklich niemand gerechnet. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 war ja offiziell nie in Frage gestellt worden. Gekämpft wurde weit weg, irgendwo in Afrika oder im Atlantik. Und plötzlich war er da: der Zweifrontenkrieg, vor dem schon Bismarck gewarnt hatte und der in den Debatten über die Ursachen der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg immer wieder genannt wurde. Aber wer wagte etwas so Ungehöriges auch nur zu denken? Der Führer würde es schon richten, und bis Weihnachten wäre der Feldzug ohnehin längst zu Ende. Im übrigen standen die Sommerferien vor der Tür.

Wir fuhren wie im tiefsten Frieden nach Thurow oder nach Bitterfeld, und vielleicht war es in diesem Jahr (oder erst 1942?), dass ich mit meiner Tante Emma die erste große Reise meines Lebens unternahm: Nürnberg, Pegnitz in der Fränkischen Schweiz, Franzensbad..... Bombengeschwader über Hamburg oder Berlin waren zu der Zeit noch kein Thema. Und dass gar der Bug zum deutschen Rubikon werden könnte, dessen Überschreitung ein großes Reich zerstören würde – aber eben das eigene, großdeutsche –, das lag natürlich jenseits jeder Vorstellungskraft. Und Hitler, der sich in seinen Reden so gern auf die Vorsehung berief? Er hätte doch gleich doppelt gewarnt sein müssen: einmal durch den antiken Orakelspruch und seine bekannten Folgen, zum anderen durch eine wirklich bizarre kalendarische Parallelität, von der er hätte wissen müssen. Auch Napoleon hatte Russland an einem 22. Juni den Krieg erklärt. Drei Jahre später war er besiegt und dankte ab: am 22. Juni 1815. Der „Führer“ hatte sein Waterloo (Stalingrad) schon nach 16 Monaten. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn er ebenfalls abgedankt hätte.

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