Deborah Feldman: Unorthodox | Buch-Tipp

Heike Avsar

Williamsburg, New York: hier wächst Deborah Feldman in der ultraorthodoxen chassidischen Satmar-Gemeinde im Haus ihrer Großeltern auf. Als Kind geschiedener Eltern und Tochter eines psychisch kranken Vaters spürt sie von klein auf die Ablehnung der Familie, die sie zur Außenseiterin macht. Bedingungslose Liebe bekommt sie von Großmutter Bubby1, Holocaust-Überlebende, die ihre Verwandten in den Gaskammern von Auschwitz verloren hat und nach der Befreiung aus dem KZ die ungarische Heimat verließ, um in die USA zu gehen. Dort angekommen, erwartete sie schon bald die neu errichtete Parallelwelt der Satmar-Gemeinde, die sie abermals abschottet. Deborah ist ein wissbegieriges Mädchen mit kluger Beobachtungsgabe und kritischem Blick auf die Unterdrückung der Frau, die strengen Regeln der Religion und deren daraus resultierender strikter Unterwerfung der Lebensgesetze, die, je älter sie wird, auch ihr auferlegt werden. Ihr Leben spielt sich zwischen streng religiös orientierter Privatschule der Satmarer und der Küche ihrer Großmutter ab – dem einzigen Ort, an dem sie sich sicher fühlt, weil sie dort mit Bubby die schönen Dinge besprechen kann. Großvater Zeidi1 hingegen verlangt absoluten Gehorsam. Auch wenn er auf seine Art nur das Beste für die Enkelin wünscht, gilt sein Interesse ihrem der Tora gemäß richtigen Verhalten und den schulischen Leistungen. Doch Deborah weiß, dass sie nicht das sittsame Mädchen ist, das Zeidi mühsam erschaffen hat – erhält sie doch viele Tadel wegen Ungehorsams und dem Brechen von Sittlichkeitsregeln.2 Stets bemüht, ihn nicht zu enttäuschen, beginnt sie doch etwas aufs Schärfste Verbotenes …

Obwohl sie weiß, dass die Gesetze der Satmarer das Lesen weltlicher, englischer Bücher untersagen, hat Deborah sich schon früh das Recht ersehnt, lesen zu dürfen. Nach Schulschluss macht sie immer öfter einen Umweg, um vor Bibliotheken und Buchläden stehen zu bleiben und sehnsüchtig die Bücher in den Auslagen zu betrachten, die sie magisch anziehen. Auch wenn sie in der Schule gelernt hat, dass Gott Hitler gesandt habe, um die Juden dafür zu strafen, sich selbst erleuchtet zu haben und jemand wie Hitler wieder von ihm gesandt werden könne, wenn man gegen die strengen Regeln verstieße, bringt sie bald schon heimlich das erste Buch ins Haus der Großeltern. Ihr erschließt sich eine neue Welt, weitere Bücher folgen, aus denen sie ihre eigene Wahrheit erliest, von der sie schon immer vermutet hatte, dass es sie gab.

Trotz wenig säkularer Schulbildung wird Deborah im Englischunterricht zur Einser-Schülerin. Ihr Wunsch, Lehrerin und damit unabhängiger zu werden, erfüllt sich. Als sie ihre erste Lehrerstelle erhält, unternimmt sie mit ihrer Kollegin Mindy heimlich Ausflüge außerhalb der Welt der Satmarer-Gemeinde. Die Freiheit währt nicht lange – Deborah ist 17 Jahre alt, als sie eine arrangierte Ehe mit dem 22jährigen, streng religiös erzogenen Eli eingehen muss. Zeidi ist glücklich und lässt sich die Hochzeit der Enkelin viel Geld kosten. Eli und Deborah sind sich nicht unsympathisch, stellt sich doch heraus, dass Eli nicht so streng religiös und kontrollierend ist, wie seine Familie es gern sähe. Als das junge Paar ihre erste gemeinsame Wohnung bezieht, beginnen die ersten Probleme, weil die Ehe über Monate hinweg nicht vollzogen werden kann. Die Ursache darin sieht Elis Mutter in den Büchern, die jetzt für jeden sichtbar in der Wohnung liegen. Deborah wird gezwungen, sie im Müll zu entsorgen.

Als sie endlich schwanger wird, überzeugt sie Eli, weit weg von ihren Familien zu ziehen, um ein neues Leben zu beginnen. Ein weiterer Schritt in eine selbstbestimmte Zukunft, die sie sich noch immer ersehnt. Nach der Geburt des Sohnes Yitzy besitzt sie den Führerschein und schreibt sich schon bald am Sarah Lawrence College für ein Literaturstudium ein. Eli erzählt sie jedoch, dass sie Wirtschaftsunterricht nehmen wird. Auf dem Weg zum College findet im Auto ihre tägliche Verwandlung statt. Langer Rock gegen Jeans, flache Schuhe gegen Pumps. Die Perücke abgesetzt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben schließt Deborah Freundschaft. Mit Polly an ihrer Seite fühlt sie sich ihrem Alter entsprechend jung. Mit ihr und anderen Kommilitoninnen isst sie ihren ersten Burger, weitere nicht koschere Speisen kommen hinzu. Es ist ihr egal, weil sie nur noch den Wunsch verspürt, endlich alles hinter sich zu lassen. Nach außen bleibt sie jedoch koscher und sittsam, um Yitzy nicht zu verlieren, für den sie sich eine freie und glückliche Kindheit mit vielen englischen Büchern, fernab der streng-religiösen Regeln wünscht. Ihr Leben ist zu einer Übung im Verheimlichen geworden, wobei das größte Geheimnis ihr wahres Ich ist. Als sie sich entschließt, auf einem Blog unter Pseudonym ihre Geschichte aufzuschreiben, ahnt sie nicht, wie sehr diese Entscheidung alles verändern wird …

Deborah Feldman, 1986 in New York geboren, erzählt in „Unorthodox“ in einer wunderbar literarischen Sprache die Geschichte ihres Lebens in einer jüdischen Sekte, die teilweise sprachlos macht. Trotz ständiger Angst, bei Verbotenem entdeckt und bestraft zu werden, geht sie mit viel Mut und einem bewundernswert starken Willen ihren eigenen Weg, um sich nach 24 Jahren endgültig von den Fesseln lösen zu können. Heute lebt sie mit ihrem Sohn in Berlin.

Anmerkung: Chassidische Gemeinden wachsen noch heute rasant an, was als endgültige Rache gegen Hitler angesehen wird.

1 Bubby und Zeidi: Kosenamen für Oma und Opa im Jiddischen.

2 Sittlichkeitsregel-Verstöße:  u. a. das ­Tragen eines Wollpullovers (Schulkleidung) auf nackter Haut oder Wollstrümpfe, die nicht blickdicht genug sind und die Haut durchscheinen lassen.
Paperback, 381 Seiten, entdeckt im Medienpoint Pankow

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