Textilkunst

Bärbel Ambrus

Eine Empfehlung von Gobelin bis Guerilla Knitting

Textilkunst mit Häkeleierbechern zu verbinden, mit weiblichen Handarbeiten in häuslicher Geborgenheit, Generationen von Frauenfleiß und gestickten Mustertüchern, verzierten Deckchen und Kissen – das sind im 21. Jahrhundert endgültig überlebte Stereotype. Besonders in den letzten Jahren beweisen zahlreiche hochkarätige Ausstellungen, auch in den ganz großen Museen der Welt, dass Kunst, geschaffen aus textilen Materialien oder mittels textiler Techniken, etabliert und alles andere als verstaubt und plüschig ist. Vielfach nimmt textile Kunst heute „den Faden auf“ in Richtung Nachhaltigkeit und Ressourcenverwendung, wie z. B. beim Guerilla Knitting. All dies werden auch Ansätze sein, wenn im Herbst neue Angebote des Kulturrings zum künstlerischen Schaffen ins Studio Bildende Kunst nach Lichtenberg einladen.

Das Textile ist eine der ältesten Kulturleistungen der Menschheit überhaupt. Geflochtene Blätter und Weidenruten boten Wetterschutz, aus verwobenen Flachsfasern und vernähten Fellen wurde Kleidung. Textile Produktion wirkte als Triebkraft bis hin zur Industriellen Revolution und ist zukunftsrelevant. Das Bedürfnis nach individueller Dekoration und nach Schmuck brachte weitere Entwicklungen hervor. Kunstvoll gefertigt und künstlerisch aufgeladen waren textile Objekte seit jeher. Von künstlerisch gestalteter Kleidung und Gebrauchsgeweben im Altertum über klösterliche Tapisserien und Gobelins des Mittelalters, von manieristisch dargestellten Faltenwürfen und Spitzenkragen bis hin zu technologischen Raffinessen der Moderne – es war ein langer Weg zur heute vollwertig anerkannten Textil-Kunst.

Textile Gebrauchskunst vermittelte über Jahrhunderte den Eindruck von Kunstgewerbe und wurde als sogenannte Angewandte Kunst von der Kunstgeschichte ignoriert und marginalisiert. Zunehmend erfuhr sie jedoch einen Wandel von Funktionstextilien zur selbstbewussten Kunst, in der das Material und die Technik – wie auch in den anderen Kunstgattungen – lediglich als Werkzeuge, als Mittel zum Zweck genutzt werden.
Der Jugendstil prägte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Sicht auf das gestaltete Umfeld und Kunsthandwerk, und textile Techniken gewannen einen stärkeren Einfluss auch auf die Malerei. Kreative Schöpfungen folgten dem Anspruch nach Gesamtkunstwerken. Bekannt für sein Engagement hierin wurde z. B. der Architekt ­Henry Van de Velde, der vom Gebäude bis zu den Möbeln alles gestaltete, auch Tapeten, Teppiche und Geschirr – selbst die Kleider seiner Gattin. Ab etwa 1900 galt für eine aufkommende Generation von Künstler*innen keine Trennung und Unterscheidung mehr. Die Genregrenzen wurden fließend, auch mit dem unkonventionellen Umgang durch die um 1910 neu entstehenden künstlerischen Ismen-Strömungen.

Hannah Hoech, die berühmte DaDa-Künstlerin, verteidigte die Verwandtschaft der Textilen Kunst mit der Malerei gegen Geringschätzung. Aus dem Ursprung des Textilen, begründet durch die orthogonale Ausrichtung des Webens, fand Anni Albers zu ihrer Abstraktion. Sonia Delaunay und Sophie Taeuber-Arp schufen eigenständige textile Kunstwerke. Sie alle prägten mit ihren bahnbrechenden Arbeiten Generationen von Künstler*innen und Gestalter*innen. Das Bauhaus schließlich propagierte ab 1919 die Einheit von Kunst und Handwerk, auch dort führte – insbesondere in der Weberei unter Gunta Stölzl – der experimentelle Umgang mit dem textilen Material zu einem größeren Umbruch in der Anerkennung als Kunst.

Sicher hat auch die starke und dekorarme Moderne beigetragen, dass das Bedürfnis nach sinnlich-haptischen textilen Kunsterfahrungen wiederum eine Renaissance im Tätigsein und in der Rezeption hervorrief. Mit ihren Strickbildern und Interventionen erzielte Rosemarie Trockel bereits seit Mitte der 1980er Jahre Aufmerksamkeit für weiblich konnotiertes Schaffen. Die Strickbilder von Olaf Holzapfel sind inspiriert von sorbischer und argentinischer Volkskunst. Gerhard Richter fertigte Wandteppiche. Er schloss an altmeisterliche Traditionen an: mit Gemälden, die graue Vorhänge adeln. Mit der textilen Verpackung des Berliner Reichstags beeindruckten 1995 Christo und Jeanne-Claude – ein unvergessliches Kunstwerk, wie auch ihre weiteren „Verhüllungen“. Zeitgenössische und zeitlose Textilkunst entwickelt auch die Amerikanerin Sheila Hicks, mitunter skulptural und in maßstabsprengenden Wollobjekten. Diese sind raumgreifend, ebenso wie die phantastischen Netzgespinste der Japanerin Chiharu Shiota.

Die Reihe von aktiven, engagierten und mit ihren Werken überraschenden Künstler*innen ist lang. Textilkunst hat längst aufgeschlossen zu den anderen Bildenden Künsten, weltweit vernetzt und sichtbar. In Berlin ist die internationale Textilkunst alljährlich präsent bei der „Textile Art Berlin“. Diese Veranstaltung wurde übrigens 2005 in Lichtenberg initiiert, von Nathalie und Christof Wolters. Sie findet vom 19. bis 21.06.2021 als Online-Event statt. Sehenswert!

Informationen: www.textile-art-berlin.de

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