Berlin-Karlshorst – Ein historisches Porträt

Heike Avsar

Buchbesprechung

Als Baumeister, Stadtplaner und Friedrichsfelder Gemeinderat Oscar Hugo ­Gregorovius im Jahr 1892 an die Königliche Eisenbahndirektion einen Antrag zum Errichten einer Eisenbahn-Haltestelle zwischen Kiez-Rummelsburg und Sadowa (heute Bahnhof Wuhlheide) stellte, legte er sozusagen den Grundstein für die von ihm angedachte Wohnsiedlung Carlshorst, an deren Entstehung er maßgeblich mitwirkte. 1895 war es soweit: die Villenkolonie Karlshorst wurde gegründet. Voraussetzung durch die Königliche Eisenbahnverwaltung war jedoch, dass zuvor ein Berliner Rennverein in der Nähe eine Pferderennbahn errichten würde, die am 9. Mai 1894 in Betrieb genommen wurde. Was einst mit zwanzig Pferden als Galopprennbahn für Hindernis- und Jagdrennen begann, sollte bald schon Rennstallbesitzer, Trainer und Jockeys nach Karlshorst holen. Trainieranstalten, Rennställe und Wohnungen für Trainer und Jockeys entstanden. Die Trabrennbahn Karlshorst sollte später in die Pferderennsportgeschichte eingehen.

Kurz vor der Jahrhundertwende entstan­den bereits die ersten mehrgeschossigen Mietshäuser, deren Bau durch Berlins stetig steigendes Bevölkerungswachstum unumgänglich war. 1899 etablierte sich der Schulbau – die erste Volksschule entstand, weil sich schon damals Eltern für Belange und Bildung ihrer Kinder einsetzten. Später kamen erweiternde Schulen hinzu. Ein Symbol bürgerlicher und sozialer Verantwortung war 1900 die Gründung einer eigenen Wehr durch einige Karlshorster Einwohner zum Schutz bei Brand des Ortes. Doch soziales Leben benötigte mehr. Gast- und Vergnügungsstätten entstanden, Vereine wurden gegründet. Vom Turnverein über Schützengilde, Flotten-, Kleingarten- und Geflügelverein bis hin zum Rauchklub „Blaue Wolke“ und vielem mehr. Industrie und Handwerk etablierten sich, Straßen und Kirchen wurden gebaut. Katholiken, Protestanten und Juden lebten in unmittelbarer Nachbarschaft. Schon früh gehörten Lehranstalten, Berufsausbildung und Erwachsenenqualifizierung zu Karlshorst. Der „Verein Deutscher Portland-Clement-Fabrikanten“ hatte bereits 1901 in seinem Labor die Arbeit für Forschung und Analyse zur Qualitätsverbesserung in der Zementindustrie aufgenommen. Der Beginn des Wissenschaftsstandortes Karlshorst.

Um 1915 lag die Zahl der Karlshorster Koloniebewohner bereits bei über 13.000. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs änderte sich vieles. Durch den Kriegsdienst herrschte nicht nur Lehrermangel. 1917 schrieb Karlshorst Militärgeschichte, als der Bau von vier Flugzeughallen und eines Werftgebäudes entstand. Der neue Flugplatz sollte aus dem bestehenden Luftschifffahrthafen Biesdorf entwickelt werden. Die Militär-Verwaltung war zur Übernahme des Flugplatzes und einer 45jährigen Pachtzeit bereit. 1919, nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages, galt in Deutschland unter anderem das Verbot von Fliegertruppen. Flugplätze mussten schließen, Fliegerhallen abmontiert werden. Nach Kriegsende ging der Pferderennbetrieb weiter, Karlshorst war nun auch international angesehen. Und doch herrschte Wohnungsnot, der ab 1924 mit sozial gefördertem Wohnungsbau Abhilfe geschaffen werden sollte. Städtebaulich gesehenes Wachstum, und doch ein von Konkursen geschüttelter Bezirk zwischen Hoffen und Bangen. Bankrotte Bauherren waren auch in späteren Jahren in Karlshorst keine Seltenheit.

Trotz Ersten Weltkriegs und 1929 eingetretener Weltwirtschaftskrise entwickelte sich Karlshorst weiter. 1931 eröffneten die „Favorit-Lichtspiele“, erste Klangfilme wurden gezeigt. Bereits zehn Jahre zuvor konnten Karlshorster Bürger in den Königs-Festsälen Filme, Vorträge und Theaterstücke genießen. Ein Postamt mit großzügiger Schalterhalle und hochmoderner Rohrpostanlage eröffnete.

Politisch gesehen standen die Karlshorster zu damaliger Zeit zwischen NSDAP und DNVP oder aber zwischen SPD und KPD. Konflikte zur politischen Gesinnung nahmen zu. Die NS-Hetze hielt ab 1933 auch in Karlshorst Einzug. Stillhalten oder Anpassen war nun die Devise, als „Säuberungsaktion­en“ gegen jüdische Karls­horster Bürger stattfanden. Die Rassenpolitik hatte Früchte getragen. Das Berufsbeamtengesetz umgeschrieben, waren nun Beschäftigungsverbote an der Tagesordnung. Jüdische Ärzte durften nicht mehr praktizieren, Existenzen wurden zerstört, Häuser und Wohnungen mussten verkauft oder aufgegeben werden. Und doch gab es Karlshorster Bürger mit anderer Gesinnung, die jüdische Mitmenschen versteckten und sich damit selbst in Gefahr brachten. Anders die „Stadtgruppe Berlin-Osten der Kleingärtner“, die 1943 einen Brief an die Kripo verfassten, in dem sie die dringende Bitte äußerten, „Zigeuner“, die noch auf den Kleingartenparzellen hausen, endlich in Sammellager unterzubringen, dann würden auch wieder Kleingartenparzellen frei werden. Wer hat nicht vom „Holocaust der Zigeuner“ gelesen, von denen die meisten in KZs den Tod fanden. Nach und nach entstanden auch in Karlshorst während des Dritten Reiches Zwangs- und Kriegsgefangenenlager. Einige anständige und mutige Karlshorster begleiteten 1944 ein Häftlingskommando der Ermordeten unter Protest bis zum Lager. Seit 1940 fielen immer wieder Bomben auf Karlshorst, Zerstörung und Flucht gingen nun einher. Nach einem schweren Luftangriff 1944, bei dem gleich vier Eckhäuser getroffen wurden, waren anschließend viele Tote zu beklagen.

Am 23. April 1945 wurde die von der deutschen Wehrmacht 1938 erbaute Festungs­pionierschule I in Karlshorst von einem sowjetischen Bataillon besetzt und das Hauptquartier der Militäradministration eingerichtet. Nikolai E. Bersarin wurde zum Stadtkommandanten Berlins ernannt und übernahm die administrative und politische Gewalt der Stadt. Die Befreiung Karlshorsts durch die Rote Armee bedeutete gleichzeitig auch den Räumungsbefehl für seine Bürger. Viele von ihnen sahen die Russen mehr als Besatzer denn als Befreier, weil ihnen bei der Räumung alles genommen wurde. Am 8. Mai 1945 wurde im Offizierskasino der Festungspionier­schule I vor Vertretern der alliierten Siegermächte Sowjetunion, Vereinigte Staaten von Amerika, Großbritannien und Frankreich, die bedingungslose Kapitulation aller Teile der deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Der Name Karlshorst ging um die Welt. Heute ist dieser geschichtsträchtige Ort das Deutsch-Russische Museum.

Mit Einzug der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) werden Teile Karlshorsts zum militärischen Sperrgebiet ernannt. Mit Befehl vom 27. Juli 1945 ordnete die SMAD den Aufbau deutscher Zentralverwaltungen an, um die Wirtschaft aufzubauen, Verkehrs- und Nachrichtenwesen wieder herzustellen, Gesundheitsfürsorge, Volkserziehung, ­Handel u. v. m. wurden vorangetrieben. ­Circa 16.000 Karlshorster Bürger mussten für den Wohnbedarf der Russen ihre Wohnungen und Häuser verlassen. Erst 1963 wurde der größte Teil des Sperrgebiets aufgehoben. 1949 gab das „Sowjetische Schauspielensemble in Deutschland“ in dem von Russen erbauten Theater in Karlshorst seine erste Aufführung. Es dauerte bis 1963, dann wurde es auch für deutsche Besucher zugänglich. Das Interesse an Karlshorst als Zentrum der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war ungebrochen. Im Volksmund wurde es „Russenstädtchen“, dann aber auch „Diplomatenstädtchen“ genannt, weil Diplomaten aus circa dreißig Ländern hier vorübergehend ein Zuhause fanden.

Man arrangierte sich in Karlshorst, ging hier doch alles durch die sowjetische Besatzungsmacht schneller voran als andernorts in der DDR. In den 1970-80er Jahren bestand das Stadtbild von Karlshorst aus ständigen Veränderungen durch Abriss und Neubauten. Schul- und Hochschulbildung ist wichtiger denn je. Auf Musikpädagogik und musikalische Früherziehung wird großen Wert gelegt, Chöre werden gegründet. Wie sehr sich die DDR jedoch an der Sowjet­union orientierte und orientieren musste, wurde in vielen Bereichen oft als freiwilliger Zwang gesehen. Der Einfluss in Karlshorst ist immer wieder zu spüren, und sei es die Namensgebung der Schulen wie Suche-Bator-Schule, Valentina Tereschkowa, Alexander Kotikow. Nichts eigenes, eine Art Unterwürfigkeit, so der Eindruck, immer nach dem Vorbild der Sowjetunion. Wie konnte ein Staat sich fast ausschließlich über sowjetische Vorbilder definieren? Gab es keine deutschen Wissenschaftler, die es verdient hätten, durch ihre Leistungen Namensgeber einer Schule zu werden?
Der Forschungsstandort Karlshorst konnte trotz Mangel an Forschungsgeldern und VEB-Unterstützungen weitergehen. So konnte die Forschungsarbeit der Forschungsanstalt WTZ, die im Kombinat Binnenschifffahrt und Wasserstraßen eingegliedert war, internationalen Standards standhalten. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands kam das Aus, wie leider an vielen anderen Wissenschaftsstandorten und in Betrieben der ehemaligen DDR. 1990 befand sich auch Karlshorst im Wandel. Neue Bürgervereine gründeten sich, die beharrlich ihre Anliegen verfolgten. Eigene Gedanken zur Entwicklung von Karlshorst legte der Bürgerverein 2001/2006 vor. Darin ging es unter anderem um die Erhaltung der Trabrennbahn, kulturelle Einrichtungen u. v. m. Seit Abzug der sowjetischen Streitkräfte 1994 ist das Stadtbild bunter geworden, die Fassaden saniert, alte Häuer mit Jugendstil-Elementen wieder sichtbar. Carlsgarten und Gelände der ehemaligen Festungspionierschule wurden zum Wohnpark Karlshorst umgestaltet. Auf der ehemaligen Trabrennbahn ist ein Pferde­sport- und Reittherapie-Zentrum entstanden. Karlshorst wächst und wächst. Das Interesse der Karlshorster für ihren Bezirk ist bis heute ungebrochen. Es wäre wünschenswert, wenn es so bliebe und sie Heimatverbundenheit und Kampfgeist an die nächsten Generationen weitergäben. Was vor 125 Jahren auf Brachland begann, wuchs zu einem der geschichtsträchtigsten und noch immer begehrtesten Berliner Ortsteile heran.

Den Autoren (Mitglieder der Geschichtsfreunde Karlshorst im Kulturring) ist ein bemerkenswertes Buch gelungen, das den Leser mit auf eine literarische, nicht nur heimat­geschichtliche Reise nimmt, die einst im Kaiserreich begann und in historischen Zeitperioden 2020 endet. Ausgestattet ist es mit zahlreichen historischen Dokumenten, alten Stadt- und Bauplänen und Fotografien, die das Lesen zu einem Genuss machen.

 


Erschienen im Kulturring in Berlin, Paperback, 193 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-948427-51-1, zu beziehen über den örtlichen Buchhandel, zum Beispiel in Karlshorst die Buchhandlung ­Petras, Treskow­allee 110, oder in Hellersdorf die Kaulsdorfer Buchhandlung, Heinrich-­Grüber-Straße 9, Preis: 7,50 Euro.

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