Moabits dunkles Kapitel - ein Spaziergang

Heike Avsar

Gedenken im Januar

Am 27. Januar 1945 wurden die Überlebenden des KZ Auschwitz befreit. Am 27. Januar jedes Jahres gedenken wir aller Opfer der Nazityrannei. Sich an die von Deutschen verübte Barbarei zu erinnern, gehört gerade in dieser Zeit zu den vornehmlichen Aufgaben von uns allen. Die braune Gefahr wittert Morgenluft, dem muss Einhalt geboten werden! Auf vielfache Weise hat der Kulturring an die Opfer erinnert, ihre Namen und ihr Leben aus der Anonymität gerissen. Er fühlt sich in der Tradition des 1945 gegründeten Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, wenn er Geschichte lebendig als Mahnung und Verpflichtung versteht. Drei Bücher hat der Verein publiziert, um an das Leben jüdischer Mitbürger in Treptow, Lichtenberg und Friedrichshain zu erinnern und den Opfern wieder ein Gesicht zu geben. Und er ist aktiv beteiligt an der Betreuung und ständigen Erweiterung der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg. In mehreren bis heute andauernden Projekten erforscht er die Verfolgung von homosexuellen Menschen in der NS-Zeit, ist mit einer Publikation und Wanderausstellung bundesweit in Erscheinung getreten. Er unterstützt die Petition, die 116 Unterzeichner im Januar 2019 an den Bundestag gerichtet haben, damit am 27. Jaunar 2021 in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags zum Holocaust explizit auch der homosexuellen Opfer des NS-Regimes gedacht wird. In Erinnerung an die Ermordeten jener Zeit möchte unsere Autorin Heike Avsar ihre Gedanken bei einem ungewöhnlichen Spaziergang mit uns teilen.

Ingo Knechtel

Es ist kurz vor neun Uhr, als ich an der Lehrter Straße 3 am „Geschichtspark Ehemaliges Zellengefängnis Moabit“ ankomme. Ein kalter, sonniger Herbstmorgen, unter meinen Füßen raschelt Laub. Auf dem Rasenstück eine verwitterte Gedenktafel, auf der zu lesen ist, dass hier von 1849 bis 1955 das Zellengefängnis Moabit stand. Von 1940 bis 1945 wurde es als Wehrmachtsuntersuchungs- und Polizeigefängnis, Gefängnis der Geheimen Staatspolizei für Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 und deren Angehörige genutzt. Viele Inhaftierte ließen hier ihr Leben.

Hinter mir Männerstimmen. Polnische Obdachlose, frisch versorgt mit Bier- und Schnapsflaschen, gehen lachend an mir vorbei Richtung Parkeingang. Rechterseits, nahe des Eingangstors, Schautafeln mit Informationen: 1840 als modernes Gefängnis unter König Friedrich Wilhelm IV. nach Plänen des Architekten Carl Ferdinand Busse erbaut, entstanden hier nach Londoner Vorbild Innenhöfe auf sternenförmigem Grundriss. Vier dreigeschossige Flügel mit ca. 520 Einzelzellen, von einem Zentralbau überwacht. Kirche, Schulgebäude, drei Beamten-Häuser, Gärten, Hinrichtungsstätte und ein eigener Friedhof gehörten dazu. Gefangene in Einzelzellen unterzubringen – der Versuch, sie durch Einzelhaft „moralisch zu läutern“.

Als ich den Park betrete, rollt ein Obdachloser seinen Schlafsack zusammen, blinzelt in die Sonne und reibt sich die ausgekühlten Hände. Einige von ihnen übernachten auf den Bänken vor der fünf Meter hohen Original-Gefängnismauer, deren Innenseite die Inschrift aus der „Moabiter Sonette“ des Dichters Albrecht Haushofer ziert – verfasst während seiner Haft im Zellengefängnis. „Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt, ist unter Mauerwerk und Eisengittern ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern, das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.“

Mehrmals durchwandere ich den Park, entdecke immer wieder etwas, versteckt hinter Blattwerk. An vielen Objekten sind die Tafeln abmontiert. Zeitgeist – auch hier. Über’s Handy versuche ich, mehr zu erfahren. Wunderbare Landschaftsarchitektur, u. a. Zellen-Nachbildung in Form rotblättriger Blutbuchen-Hecken zu skulpturalen Bauten der Bezug zur Historie. Gedenkort und nutzbarer Park.

Endlich finde ich den Nachbau einer ­Zelle. Auch hier ist die Tafel entfernt. Beim Betreten ertönen Klanginstallationen. Klopfzeichen mit Rezitationen der Gedichte aus Haushofers „Moabiter Sonette“. Ich finde heraus, dass man die Zelle verlassen und wieder neu betreten muss, um weitere Strophen hören zu können. Jogger laufen an mir vorbei. Und ich? Ich friere, während ich die Strophen höre und Haushofer in seiner ­Zelle sitzen sehe. 1945 – auch er von den Nazis ermordet.

Hinter der Mauer liegen die Beamten-Wohnhäuser, vis à vis hübsche Kleingärten, vom Herbst bunt verfärbt. Ich spreche eine Rentnerin an, die in ihrem Garten Laub harkt. Im Laufe unseres langen Gesprächs erzählt sie: „Die Gefängnisbeamten verdienten nicht viel, einige hatten hier zwischen Brachland ihre Gärten. Hier wurden auch die Toten verscharrt“, und klopft mit dem Rechen auf die Erde. Ich zucke innerlich zusammen und frage mich, wie man auf einem Boden, der so viel Blut gesehen hat, Obst und Gemüse anbauen kann. Mir ist schlecht.
Sie erklärt mir den Weg zum Beamten-Friedhof, der zwischen den Kleingärten versteckt liegt. Das Tor verschlossen. Zwei Wildbienenstöcke auf dem Boden. Auf einem schwarzen Grabstein kann ich aus der Ferne die Gravur erkennen: „Ruhe sanft“ – und ich denke: ja, das hätte ich den Ermordeten auch gewünscht.

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