Wer in den 1950er Jahren in Berlin eine Wohnung suchte, hat wohl Ähnliches erlebt wie wir. Unsere erste gemeinsame Wohnung war 1955 ein „Leerzimmer“ mit Bad- und Küchenbenutzung zur Untermiete in der Fanningerstraße in Berlin-Lichtenberg. Wir hatten gerade geheiratet und waren aus der Enge der elterlichen Wohnungen in eine andere Enge geraten – Platz war nur für das Nötigste: ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, Stühle und etwas Hausrat. Die Familie des Vermieters war nicht erfreut über die „Einquartierung“, wir aber waren froh, endlich zusammen zu sein.
Eine eigene Wohnung erhielten wir 1957 in der Friedrichshainer Jessnerstraße: Zimmer und Küche im vierten Stock, Toilette auf halber Treppe, das Ganze wie bei Zille in einem typischen Berliner Hinterhof. Mein Mann war als freiberuflicher Grafiker tätig und brauchte dringend einen Arbeitsraum, also ging die Suche weiter. Mit einer Bescheinigung des Verbandes Bildender Künstler erhielten wir vom Stadtbezirk die Möglichkeit, uns unter den leer stehenden Gewerberäumen umzusehen. Wir entschieden uns 1959 für einen Laden mit Nebengelass und zwei Wohnräumen mit Küche in der Scharnweberstraße. Das Haus sollte bald abgerissen werden, und so spekulierten wir auf eine spätere Besserstellung. Für den Umzug organisierten wir einen Pferdewagen eines benachbarten Fuhrgeschäfts. Die Scharnweberstraße hatte ein gewisses Flair, da waren Häuser aus der Zeit des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert, vor unserem Haus blühten Linden. Mit dem alten Friseur aus dem Laden nebenan pflegten wir freundschaftlichen Kontakt und lernten andere Leute aus der Nachbarschaft kennen. In den Wohnräumen zogen wir mit Spanplatten und Leisten einige Trennwände, unter anderem weil die Toilette in der Küche war. Mit der Zeit zeigten sich jedoch noch weitere Probleme: Neben dem Haus war eine Baulücke, die als wilde Deponie missbraucht wurde. Dieser Situation verdankten wir zwei schöne Spiegel, verschiedenes kleines Mobiliar, eine Lederpresse, aus der mein Mann eine Druckerpresse baute, und immer wieder Ratten in Küche und Toilette, bis wir „die Hygiene“ alarmierten und das Grundstuck gesperrt wurde. In den Wohnräumen war es dunkel, weil das Licht auf dem kleinen Hinterhof von einer Kastanie abgefangen wurde, und durch die vielen Außenwände und fehlenden Isolierungen war es kalt und feucht. Einmal, im Winter, fror uns das Wasser ein. Wichtig war aber, dass mein Mann Platz für seine künstlerische Tätigkeit hatte, er arbeitete mit Siebdruck, fertigte Radierungen an und richtete sich ein Fotolabor ein.
Wir hielten elf Jahre durch, stellten immer wieder Anträge auf andere Räume und waren schließlich erfolgreich. Als wir 1970 „völlig abgebrannt“ aus dem Urlaub kamen, fanden wir eine Zuweisung für Gewerberaum mit Wohnung in der Niederbarnimstraße vor. Wieder war ein Umzug mit geringsten Mitteln angesagt. Wir transportierten Schrankteile mit einem Leiterwagen, was ihnen nicht gut bekommen ist, dann half uns ein Kollege mit einem von meinem Betrieb ausgeliehenen Kleintransporter. Renoviert haben wir immer selbst. Dieses Mal war es ein ehemaliger Tabakladen, vorn helle Räume an der Straße mit einer großen Schaufensterscheibe, nach hinten heraus ein weiterer Raum und die Küche mit Sicht auf einen kleinen begrünten Hof und – endlich! Ein Badezimmer! Noch vor dem Einzug, in der leeren Wohnung, wurde der Badeofen angeheizt, und man schwelgte im warmen Wasser. Wir richteten uns mit viel eigener handwerklicher Arbeit und guten Ideen ein. Für zwei Räume bekamen wir eine Gasheizung genehmigt, so dass wir erstmalig im Winter nicht gefroren haben. Die Arbeitsmöglichkeiten für meinen Mann waren günstiger als zuvor, er nahm jetzt auch größere Dinge in Angriff. Zusammen mit einem Kollegen entwarf er ein Wandbild.
Ab 1990 veränderte sich das Umfeld in der Niederbarnimstraße. Der Verkehr nahm zu, Autos parkten auf dem Bürgersteig vor unseren Fenstern, in der Mainzer Straße entstand ein Unruheherd, plötzlich gab es Polizei und Demonstrationen bei uns. Unser Haus wurde verkauft, der neue Eigentümer wollte ein Büro in unserem Laden einrichten und war froh, dass wir mit einem Wohnberechtigungsschein 1994 eine Wohnung fanden. Er unterstützte uns, indem er meinem Mann drei Bilder abkaufte und seinen Hausmeister anwies, uns beim Renovieren zu helfen. Das war unser einziger Umzug mit einer richtigen Umzugsfirma. Für den Abtransport von Mobiliar brauchten wir zwei große Autos der Stadtreinigung, denn ein Atelier konnten wir uns unter den neuen Bedingungen nicht leisten – es ging um eine berufliche Neuorientierung und nicht nur einfach um einen Wohnungswechsel. Wir richteten uns im „etwas höheren Lebensalter“ in zweieinhalb Zimmern ein, mit dem Vorteil, nicht mehr in Eigenregie handwerkeln zu müssen. Es gab einen Fahrstuhl und „warmes Wasser aus der Wand“. In unserem Wohngebiet am Fennpfuhl in der Nähe des Anton-Saefkow-Platzes kann man auf kurzen Wegen fast alles erreichen, was für ein gutes Leben nötig ist. Jedenfalls bedauerten wir nicht, nach Lichtenberg zurückgekehrt zu sein, wo unser gemeinsames Wohnen seinerzeit begonnen hatte. Die räumliche Enge schadete der Kreativität meines Mannes nicht, er suchte sich neue Tätigkeitsfelder. Gegen seine angeschlagene Gesundheit konnte er trotz der grüneren Umgebung leider nichts ausrichten, und so bin ich seit 2009 allein.
Ich möchte meinen Bericht nicht beenden, ohne zu erwähnen, was aus unseren früheren Wohnungen geworden ist. Überall wurden Baulücken geschlossen, viele Häuser saniert. Das Haus in der Jessnerstraße ist offenbar ein Rückzugsort für Menschen, die anders leben wollen. Wie eine trotzige Festung ist es verschlossen, ohne Namensschilder und Klingeln, die Türen mit Losungen beklebt. Fassade und Balkons sind saniert, bis in die oberen Stockwerke ranken Kletterpflanzen. Ein weißes Tuch von einem Balkon verkündet: „Kapitalismus tötet“. Schade, dass ich nicht auf den Hof sehen konnte. Das Haus in der Scharnweberstraße ist schon zu DDR-Zeiten abgerissen worden, auf der Fläche von etwa vier Grundstücken sind moderne Wohnungen entstanden. Anfangs war dort das Büro der Wohnungsverwaltung, jetzt ist ein Kindergarten in der unteren Etage. In der Niederbarnimstraße hat sich – ähnlich wie in der Gegend um den Boxhagener Platz – ein reges Leben entwickelt. Tische und Stühle der Gaststätten und die Waren der kleinen Geschäfte nehmen den Bürgersteig ein, die ersten Touristen besichtigen schon am Nachmittag das Treiben. Unser Laden war zuerst Büro, dann eine Art Geschenkeshop, und jetzt, nach erneuten Umbauten, arbeitet dort ein Haarkünstler. Nebenan, wo früher mal ein Friseur war, ist jetzt ein Café.