Mir ist wohl bei solchem Schmerze …

Wolfram Haack

Das 20. Silvester-Festkonzert von ­Concerto Brandenburg findet in diesem Jahr unter denkwürdigen Umständen statt. In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nehmen, bedingt durch die Schutzmaßnahmen wegen der Pandemie, in diesem Jahr nur jeweils 130 Konzertbesucher Platz. Sicherheit und Rücksichtnahme haben oberste Priorität. Concerto Brandenburg macht aus der relativen Not eine passable Tugend und musiziert dem entsprechend (auch ein wenig als Reminiszenz an die Gründungsjahre des Ensembles) als Kammerorchester. Auf dem Programm stehen bedeutende barocke Werke, unter anderem von Johann Sebastian Bach,  Antonio Vivaldi und Johann Gottlieb Graun, die allesamt Mut machen werden. Ergänzend und korrespondierend werden lyrische Werke der frühbarocken Dichtung rezitiert, deren Verbreitung nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges zur individuellen und gesellschaftlichen Resilienz beigetragen haben mag. Doch welche Art von Resilienz ist nützlich, die Schlussstrich-Resilienz oder die der aktiven Erinnerung?

Bewährt haben sich die der Erinnerung, die des Übergangs, die der Transition. Der Lyriker Paul Fleming, 1609 in Sachsen geboren, der auf Latein und auf Deutsch dichtet, wird 1623 mit vierzehn Jahren in die Leipziger Thomasschule aufgenommen, wo Herrmann Schein Thomaskantor ist – bis Johann Sebastian Bachs kommen weitere vier. Fünf Jahre später studiert  der musikalische ­Fleming in Leipzig Medizin, lernt verschiedene barocke Dichter kennen, verschlingt Martin Opitz‘ Regelwerk der Poetik und reist als Arzt, obschon nicht einmal promoviert, mit einer Gesandtschaft nach Moskau und Isfahan. Auf dem Hinweg verliebt er sich in Reval, macht 1640 in Leiden seinen Doktor, will sich aber in Reval niederlassen und stirbt auf dem Weg dorthin noch im Jahr seiner Promotion in Hamburg an Lungenentzündung. Welch starken Antrieb hat dieses rasante Leben? Es ist sicher Gottvertrauen. Es ist auf jeden Fall Zuversicht. In gewissem Sinne eine irre Zuversicht mitten im Dreißigjährigen Krieg. Es ist Realitätssinn, denn Fleming will als Pfarrerssohn Arzt werden. Den reinen ­Schrecken nicht dulden, intellektuell aufbegehren gegen einen Alltag, in dem Schrecken und Verheerung so beiläufig zu werden drohen, dass man die Tugend nur noch herbei zu singen vermag. In Reval, wo sich Fleming verliebte, dichtete er ein Loblied auf die Treue. Die Dame heiratete einen anderen, er ihre jüngere Schwester. Dieses Loblied, das wir im Silvester-Festkonzert gesprochen hören werden, ist so ein Transit, so ein Anker der Resilienz.

Das „Barocke Zeitalter“ verdankt seinen Ursprung nicht zuletzt der Bündelung von bis dahin einzelnen Kräften. Die Kunstwerke dieses Zeitraums bewältigen eine andauernde Krisenhaftigkeit, die mehreren Generationen ihrer Zeitgenossenschaft ohne Ende und ausweglos vorgekommen sein muss. Mit der Zusammenführung von Musik, Schauspiel und Architektur der um 1600 in Italien entstandenen Oper beginnt eine Epoche der Neuorientierung. Man kann mutmaßen, dass eine derartige kreative Explosion, gerade nach einem Jahrhundert der Kriege um die Herrschaft in Italien, nicht nur individuelle Traumata verarbeiten half, sondern auch gesellschaftliche.

Krieg, Seuche, Krieg – ein Krieg nach dem anderen. Schon 1618 bricht in Europa die nächste von Menschen gemachte Verheerung an. Sie dauert dreißig Jahre. Eine Abfolge von Machtlosigkeit und Resignation des Individuums, aber eben auch großer existentieller Fragen und neuer gesellschaftlicher Entwürfe dazu. Sie verteidigen das intellektuelle Aufbegehren gegen die Ohnmacht, in der Welt zu sein, ganz anders als noch in der vorangegangenen Renaissance.In allen Kompositionen und in der frühbarocken Lyrik des diesjährigen Silvester-Festkonzerts von Concerto Brandenburg blitzen Resignation und Aufbegehren gegen kollektive und individuell empfundene Ohnmacht mehrerer Generationen auf. Es spiegelt sich in den Kompositionen jedoch unverkennbar eine, wenn auch beschränkt wiederhergestellte Handlungsfähigkeit in der Welt. Von Johann Sebastian Bach bis hin zur Sinfonie des Johann Gottlieb Graun, dem Konzertmeister Friedrichs des Großen, halten sich Lamento und Heilung die Waage – per ­aspera ad astra?

Karten für die Silvester Festkonzerte 2020:
30,- Euro (keine Ermäßigung). Einheitspreis auf allen Plätzen, freie Platzwahl. Vorverkauf alle Theaterkassen (zzgl. Vorverkaufsgebühren). Veranstalter: Kulturring in Berlin und Concerto Brandenburg.

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