Lange Nacht der Bilder Lichtenberg 2020

Gerhard Zaucker

Die gute Nachricht zuerst: Die Lange Nacht der Bilder wird auch dieses Jahr stattfinden. Am 4. September von 18 bis 22 Uhr in der 13. Auflage, aber mit einigen corona­bedingten Änderungen. So wird es dieses Jahr keine Bustouren geben, dafür aber sechs Fahrradtouren und sechs Touren zu Fuß mit sachkundigen Guides. Zudem wird ein digitales Zusatzprogramm mit Künstler*innenporträts, ausgestrahlt auf dem YouTube-Kanal des Bezirksamtes Lichtenberg, angeboten. Die Struktur der Langen Nacht bleibt im Großen und Ganzen erhalten. So nehmen auch dieses Jahr die großen Atelierhäuser teil, die Studios ID in der Genslerstraße 13, HB 55 Räume der Kunst in der Herzbergstraße 55, die B.L.O. Ateliers in der Kaskelstraße 55 und die Alte Gießerei Berlin in der Herzbergstraße 123.

Die Künstler*innen öffnen ihre Ateliers und laden herzlich ein, sich über ihre Kunst, ihre Arbeitsweisen, Ideen und Gedanken persönlich mit den Gästen auszutauschen. Dabei sind einige Regeln zu beachten: In die Ateliers soll nur eine begrenzte Anzahl von Besucher*innen eintreten. Es kann somit unter Umständen vor den Ateliers zu Warte­zeiten kommen. Beim Eintreten ist ein Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Zu achten ist auf die Kennzeichnungen der Wege vor Ort. Insgesamt sind ca. 140 Künstler*innen an der Langen Nacht beteiligt, an 40 verschiedenen Orten von Neuhohenschönhausen bis Karlshorst. Neben den Atelierhäusern sind die Kommunalen Galerien wieder dabei. Die Galerie 100 in der Großen-Leege-Straße 99, die Galerie im Hochhaus in der Zingster ­Straße 25, die rk-Galerie in der Möllendorffstraße 6 im Rathaus, das Museum Lichtenberg im Stadthaus in der Türrschmidtstraße 24 sowie das Kulturhaus Karlshort in der Treskowallee 112. Der Kulturring lädt ins Studio Bildende Kunst in die John-Sieg-Straße 13 und in den Freien Kunstraum ­GISELA in der Giselastraße 12 ein. Auch einige ­soziale Projekte nehmen wieder teil und zeigen die Kunstproduktionen ihrer ­Klientel. Da sind unter anderem die oskar | freiwilligen­agentur in der Weitlingstraße 89, das Nachbarschaftszentrum Altes Lazarett auf der Friedrich-Jacobs-Promenade 14, der Margaretentreff der AWO in der Zachert­straße 52 und viele mehr. Einzelkünstler*innen in ihren Ateliers können ebenfalls besucht werden, zum Beispiel der Bildhauer Götz Badtke in der Emanuelstraße 2, die Malerin Feryel Atek in der Josef-Orlopp-Straße 92, in der Victoriastadt der Keramiker Helmut Menzel in der Pfarrstraße 94 im Hinterhaus oder die Bildhauerin Caroline Wagner in Friedrichsfelde in der Splanemannstraße 8, um nur einige zu nennen.

Interessierte sollten sich die Broschüre zur Langen Nacht besorgen, die in den Ausstellungsorten ausliegt. Sie können sich somit einen Überblick über das Programm und sämtliche Akteure, Adressen und Tourenangebote verschaffen. Für die Touren muss man sich telefonisch anmelden. Dies ist vom 17. August an möglich unter Telefon 030 516 56 004 oder 030 516 56 005, oder per E-Mail an
kulturring@langenachtderbilder.de oder per­­sönlich in der Giselastraße 12, Montag bis Freitag von 10 bis 16 Uhr. Des weiteren gibt es sämtliche Informationen und Kontaktmöglichkeiten über die Homepage www.langenachtderbilder.de mit kleinen Wegeskizzen zu den einzelnen Touren und vielem mehr. Die Lange Nacht gibt es auch auf Facebook und Instagram (neu), beide sind unter dem Namen „Lange Nacht der Bilder“ zu erreichen. Die Lange Nacht der Bilder hat sich inzwischen zu einer anerkannten und geschätzten Veranstaltung in Berlin entwickelt. Das Feedback zeigt uns, wie sehr man das direkte Gespräch mit den Künstler*innen liebt und den Einblick in das reale Schaffen an der Kunst schätzt. Das Organisationsteam vom Fachbereich Kunst und Kultur des Bezirksamtes Lichtenberg und vom Kulturring in Berlin freut sich auf viele Gäste, wünscht fruchtbare Gespräche und viel Freude bei den Kunstbetrachtungen.

Alexandra von der Heyde:

Silvia Sarsano: Idealbild & Ungleichheit

Stark von den Begriffen „Generation” und „Erinnerung” geprägt, bringt die Künstlerin Silvia Sarsano in ihrem Werk ihre Auffassung zum Ausdruck, dass Geschichte nicht nur von großen Persönlichkeiten, sondern auch vom sogenannten einfachen Volk geschrieben wird. Das Volk pflegt, transformiert und gibt die Kultur, die Werte und die „wahre“ Geschichte weiter. Durch das Porträtieren bevorzugt unbekannter Personen lenkt die Künstlerin unseren Blick, ohne Idealisierung und ohne Anspruch auf Vollkommenheit, auf unverfälschte Schönheit, ein ehrliches Selbst und reine Emotionen: „Der unglaubliche Widerspruch unserer modernen Gesellschaft in bezug auf Frauen, die im Idealbild als Göttinnen oder Musen dargestellt werden und … in der realen Welt einer ständigen Ungleichheit ausgesetzt sind“. Der Darstellung der Frau im Spannungsfeld dieses Widerspruchs gilt ihr besonderes Interesse. Ihre ausgewählten Werke stammen aus dem „Kalighat-Projekt“, welches sich mit den Themen Menschenhandel und der Wiedereingliederung von Sexarbeiterinnen in die Gesellschaft mittels traditionellem Kunsthandwerk befasst. Während ihrer Künstlerresidenz bei Chander Haat in Kalkutta, Indien, dem größten Zentrum für Menschenhandel in Asien, entstanden, hat das Projekt zum Ziel, das Bewusstsein für den Themenkomplex zu schärfen und möglicherweise durch Spenden zu helfen. Deshalb geht ein Teil des Gewinns an die NRO New Light Kolkata, die die Künstlerin bei der Projektrealisierung unterstützt hat. In Kombination mit ihrer angestammten Ausdrucksform, der Malerei, setzt die Künstlerin eine der im Projekt gelehrten kunsthandwerklichen Fähigkeiten ein, den Blockdruck, die früheste Methode zum Drucken von Mustern auf Textilien. 1981 in Viterbo, Italien, geboren, hat Silvia Sarsano Malerei an der Kunstakademie in Rom studiert. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Berlin.

Mathias Roloff: Figurative Konstellationen und energiegeladene Stillleben

Mit dezidiertem Blick in seinen Arbeiten mit den Abhängigkeiten im Handeln des Individuums befasst, lotet der Künstler aus, inwiefern die Dualität externer Einflüsse und interner Prioritäten Anteil an einer permanenten Verschiebung der eigenen moralischen Grenzen hat und welche profunden Gewissensfragen und latent melancholischen Tendenzen daraus erwachsen. Die Lebenserfahrungen aus verschiedenen Gesellschaftssystemen und die daraus resultierenden externen Einflüsse (zwischenmenschliche Beziehungen ebenso wie profane Begehrlichkeiten nach Konsumgütern) werden vom Künstler mit Hilfe figurativer Konstellationen und energiegeladener Stillleben, deren Grundlage in den üppigen Stillleben des Barock zu finden sind, visualisiert. Mathias Roloff ist gebürtiger Lichtenberger. Sein Studium der Malerei und Grafik hat er an der Universität der Künste Berlin bei Prof. Volker Stelzmann absolviert und seine Meisterschülerschaft 2006 beendet. Seit 2000 hatte er mehrere Studien-/Arbeitsaufenthalte in Italien (Rom, Neapel, Florenz, Prato). 2009 wurde er für Buchillustrationen für den Otto-Ditscher-Preis nominiert. Er hat wichtige Arbeiten in der Staatsoper Berlin ausgeführt und ist derzeit in den Kultur­beirat des ­Bezirksamtes Lichtenberg berufen.

Denis Kuschel: Berliner Vögel

Der nebenberuflich freischaffende Künstler, der sein Atelier in Wildau hat, sieht seinen Schwerpunkt im Bereich Aquarellmalerei und Karikaturen. Sein Interesse gilt besonders den Reiseaquarellen, farbinten­siven Ölbildern und bissigen Cartoons. Bei letzteren nimmt der Künstler skurrile Alltagssituationen auf und setzt sie, zwar mit einem verschmitzten Lächeln, aber dafür um so treffender, um. Für Denis Kuschel bestehen sehr große Parallelen zwischen Menschen und Vögeln. Den nachvollziehbaren Beweis für seine These liefert er in den Bildern seiner jüngsten Ausstellung, in denen verschiedene Vögel im Berliner Alltag agieren. Trotz naturalistischer Darstellung der Vögel fühlt man sich doch hier und da an ein paar Menschen erinnert, die man wiederzuerkennen glaubt. Besonders ans Herz gewachsen ist dem Künstler der Flamingo, den er sehr gern darstellt, weil dieser einen „Glamour-Faktor“ verkörpert. Seine erste Personalausstellung präsentierte Denis Kuschel unter dem Titel „­Bunte Palette“ im Veranstaltungsraum der Gemeinde- und Kinderbibliothek in Zeuthen, (9-12/2019).

Juana Anzellini: Über die Blindheit und meine künstlerische Arbeit

Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Blindheit ein komplexes, facettenreiches Phänomen darstellt, welches sich nicht nur auf das biologische Sehvermögen reduzieren lässt, hat sich die Künstlerin dem Thema durch verschiedene theoretische Ansätze, aber auch konkrete Erfahrungen in Workshops und der Zusammenarbeit mit Menschen, die eine visuelle Beeinträchtigung haben, angenähert. Hierbei sind in einer beiderseitig intensiven Kollaboration mit einer Berliner Blindenwerkstatt (DIM) Ideen entwickelt worden, die beiden Welten der Sehenden und der Nichtsehenden zu verbinden. Das künstlerische Ergebnis ist eine Wandinstallation aus Druckgrafiken und Malereien mit einer Bürstenoberfläche. Die vielfältige Ansammlung von Onomatopoesie mit sexueller Konnotation gerät zum Ausgangspunkt für eine Serie von Objekten mit haptischer Qualität, die die verschiedenen Sinneswahrnehmungen mit künstlerischen Ausdrucksformen vermengen. Am Ende steht das Tasten und das Sehen mit Hilfe der Formen der Typografie.

Reinhard Bojak: Formfindung und Komposition

Unter filigranem Einsatz teilweise recht schweren Arbeitsgeräts erschafft der Künstler seine bevorzugt aus Plexiglas gefertigten, am Ende makellos scheinenden Schöpfungen. Dabei ist es erklärtermaßen nicht sein Ziel, ein Ideal von Schönheit vorzustellen, sondern Interesse zu wecken. Ausgehend von einfachen geometrischen Formen, unter Anwendung komplexer, auf Permutationen oder Maßverhältnissen basierender Berechnungen nach rein konstruktiven Prinzipien, gestaltet er durch komplizierte Schnitte systematische Zerteilungen, Reihungen, Verdrehungen, Ver­schiebungen, Spiegelungen. Das Material ermöglicht ihm, das Innere und die Seitenflächen der Plastiken in die Gestaltung einzubeziehen. Es ergeben sich das Auge herausfordernde Gebilde, deren tiefere Struktur der Betrachter mit Hilfe der Brechung und der Reflexion des Lichts zu entschlüsseln versucht. Reinhard Bojak wurde 1940 in Greulich (Schlesien) geboren. Von 1960 bis 1966 studierte er Bildhauerei und Kunsterziehung in Saarbrücken, Kassel und Berlin. Seit 1969 hat er zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland. Viele seiner bedeutenden Werke befinden sich in Sammlungen oder wurden von Museen angekauft. Seit fünf Jahren lebt Reinhard Bojak (wieder) in Berlin.

Hier & Jetzt: Connections: Künstler*innen im Exil

Die im Jahr 2017 gegründete Initiative HIER & JETZT: Connections organisiert ein Aus­tausch- und Residenzprogramm in den B.L.O. Ateliers in Lichtenberg, von Künstler*innen für Künstler*innen im Exil. Die Initiative versteht sich als Kunst-, Lern- und Kommunikationsraum und veranstaltet mit ihrem cross-kulturellen Netzwerk Workshops, Künstler*innengespräche, Filmvorführungen, Offene Ateliers und Ausstellungen. Die Expert*innen und die Öffentlichkeit sind eingeladen, mit Menschen u. a. aus Syrien, dem Iran, Irak und der Türkei neue soziale Verankerungen und künstlerische Impulse zu teilen. HIER & JETZT: Connections arbeitet in den B.L.O. Ateliers auf dem Gelände des ehemaligen Bahnbetriebswerks Berlin-Lichten­berg-Ost, wo insgesamt etwa 70 Personen u. a. in den Bereichen Bildende Kunst, Handwerk, Musik- und Filmproduktion ­aktiv sind. Der Trägerverein Lockkunst e. V. organisiert gemeinnützige Projekte mit verschiedenen kulturellen und kommu­nalen Partner*innen. Regelmäßig finden im Veranstaltungsraum des Ateliergeländes Konzerte, Film- und Theateraufführungen statt. Einige der Ateliers und Werkstätten bieten interessante Workshops an.

Peter Tiez: Die befreite Form

Für den Künstler ist von Bedeutung, permanent nach der im Material bereits vorhandenen, noch verborgen Form zu suchen, der Form, die sich dem inneren Auge detailreich präsentiert, auf Befreiung von ihren Hüllen pocht, buchstäblich nach außen drängt. Dann muss er nur noch das überflüssige Material entfernen. Aber ebenso lässt er sich von Erlebtem und von Gefühlen leiten und lässt die entstehenden geistigen Bilder durch seine Arbeit sichtbar werden. In dem Falle folgt das Material der Idee und tut seine innere Form nicht ganz so massiv kund. Der Künstler hält aber auch bei einem solchen Schaffensprozess geistige Zwiesprache mit dem Material, und lässt Impulse zu, die durch zutage tretende Strukturen, Maserungen etc., hervorgerufen werden, sodass das Endergebnis durch das Material positiv beeinflusst und verändert wird. Peter Tiez, 1961 geboren, wuchs in Berlins Ostteil auf, wurde Flugzeugmechaniker, dann technischer Leiter bei verschiedenen Fluggesellschaften. 2018 entschied er sich für seinen beruflichen Ausstieg. Seitdem befasst er sich als Bildhauer (Stein, ­Metall, Holz) mit seinem Traum von kreativem Schaffen. Sein technisch-handwerklicher Hintergrund hilft ihm zwar, die Materialien zu verstehen und zu bearbeiten. Dennoch hat für ihn, wie er selbst sagt, die Suche gerade erst begonnen.

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