Wie ich Johannes R. Becher kennenlernte

Dr. Gerhard Schewe

Um es vorwegzunehmen: Ich bin ihm persönlich nie begegnet, habe nie ein Wort mit ihm gewechselt. Das Kennenlernen geschah – auf ganz andere Art und Weise – im Wohnzimmer meiner in Bitterfeld lebenden ­Tanten. Sommer 1949, ich hatte gerade mein Abitur gemacht, mit „sehr gut“ sogar. Was das wert sein würde, stand allerdings noch in den Sternen. Vorerst drehte sich alles um das bevorstehende Goethe-Jubiläum, den 200. Geburtstag. Vier Jahre nach dem Krieg verband sich mit diesem Ereignis bei vielen Menschen ein gewisses Gefühl der Befreiung. Es gab also doch noch etwas, das dem deutschen Namen Ehre machen konnte, an dem sich das missbrauchte Nationalgefühl wieder aufrichten ließ.

In diese Stimmung platzte die unerwartete Nachricht wie eine Bombe: Thomas Mann kommt nach Weimar! Auch ich war begeistert, wie man mit neunzehn nur begeistert sein kann. „Mario und der Zauberer“ gehörte damals noch nicht zur Schullek­türe, aber ich hatte die „Buddenbrooks“ gelesen, wusste von seinen während des Krieges gehaltenen Rundfunkansprachen an die „Deutschen Hörer“. Thomas Mann verkörperte für mich eine Haltung, die man später „Adel des Geistes“ nennen sollte.

Und nun er persönlich! Das wollte ich unbedingt miterleben, zumindest akustisch, also am Radio. Das Problem war nur: wir hatten keins, Kriegsverlust. Und so saß ich dann an jenem 1. August vor dem altmodischen Lautsprecher meiner Bitterfelder Tanten und verfolgte die Geschehnisse dieses denkwürdigen Tages: die Fahrt durch die Stadt, den Empfang vor dem Nationaltheater, die Ansprachen, die Verleihung der Ehrenbürgerschaft Weimars, den Festvortrag, den Thomas Mann zuvor schon in Frankfurt gehalten hatte … Und in seiner Begleitung: Johannes R. Becher, expressionistischer Dichter und Präsident des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Die beiden kannten sich aus ihren Münchener Jahren und auch aus der Emigration. Die Wertschätzung war gegenseitig, das Verhältnis respektvoll. Ein paar Bildsequenzen in der nächsten Wochenschau ließen das deutlich nachempfinden. Wahrscheinlich war es überhaupt nur Bechers Ansehen zu verdanken, dass Thomas Mann die Einladung nach Weimar angenommen hatte, und die Idee stammte sowieso von ihm. Es war seine ursprüngliche Kulturbund-Vision: den Reichtum und das Erbe der Kultur zum Aufbau einer neuen nationalen Identität zu nutzen, alle Gutwilligen für diese Aufgabe zu gewinnen, ob sie nun Ost- oder West­emigranten oder im Land Gebliebene waren.
Seither war Becher für mich ein Begriff. Ich las seinen Roman „Abschied“, das Drama „Winterschlacht“, rezensierte einen Lyrik-Band für die Tageszeitung „Märkische Volksstimme“, begann mich für den Kulturbund und sein Programm zu interessieren. Mitte der Fünfzigerjahre wurde ich Mitglied in der Hochschulgruppe der Humboldt-Universität. Als Becher 1958 starb, empfand ich das als einen persönlichen Verlust.

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