Luther-Effekte

Reinhardt Gutsche

„Der Luthereffekt“ lautet der Titel der großen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Berliner Martin-Gropius-Bau zum Reformationsjahr. Sie beleuchtet die Vielfalt und Wirkungsgeschichte von „500 Jahre Protestantismus in der Welt“, ohne dessen Konfliktpotenziale auszusparen.

Am 31. Oktober 1517 hatte der Wittenberger Mönch Martin Luther einer hartnäckigen Legende zufolge 95 Thesen an eine Kirchentür genagelt, in denen er vor allem den damals verbreiteten Ablasshandel als unchristlich anprangerte, ein einträgliches kirchliches Geschäftsmodell, den armen Sündern gegen Bares den Sündenerlass zu bescheinigen, eine Praxis, für die man wohl heute wegen Betruges zu Recht im Knast landen würde. Neben dem 150. Jahrestag des „Kapital“ von Karl Marx und dem 100. Jahrestag der beiden Phasen der antizaristischen Revolution in Russland nun mit „500 Jahre Reformation“ in diesem Jahr ein weiteres gedenkpolitisches Superevent, alles Anlässe von Ereignissen, die auf den Gang der jüngeren Weltgeschichte prägend einwirkten.

Bereits 2011 hatte der Bundestag befunden, „die Reformation als ein zentrales Ereignis in der Geschichte des christlich geprägten Europas“ habe „die Entwicklung eines Menschenbildes gefördert, das von einem neuen christlichen Freiheitsbegriff maßgeblich beeinflusst wurde“. Sie sei „wichtig für die Ausbildung von Eigenverantwortlichkeit und die Gewissensentscheidung des Einzelnen“. Erst damit hätten sich „die Aufklärung, die Herausbildung der Menschenrechte und die Demokratie entwickeln“ können. Dieses Ereignis wurde und wird nun nach allen Regeln der Event-Kunst begangen, mit Kirchentag, einmalig bundesweitem Feiertag, vielen Ausstellungen und Konzerten, aber auch mit eigenem Luther-Merchandising wie Playmobil-Figuren, Luther-Socken, Reformationsbonbons usw.

Dass dafür viel Steuergelder fließen, finden nicht alle plausibel. Manche üben deutliche Kritik an dem Luther-Rummel, wie etwa der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, einer der profundesten Luther-Kenner. Er hält das ganze Tamtam für „banal, erbärmlich, albern“ (Tagesspiegel v. 02.01.2017) und auch die Luther verliehene Vorbildrolle für „abwegig“, nicht zuletzt wegen seines Antijudaimus, der nicht nur religiöser Natur gewesen sei, sondern biologistische und damit antisemitische Züge im modernen Sinne trug. „Durch niemanden anderes Worte ist so eindeutig zum Synagogenbrand aufgerufen worden wie durch Luthers. Die brennenden Synagogen am 9. November 1938 waren der Probelauf für den Holocaust.“ (ebd.) Starke Worte des Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann, der auch an den Luther-Kult der Hakenkreuzler erinnerte. Wem ist in Halle eigentlich noch bewusst, dass erst unter deren Herrschaft die einstige Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg zum 450. Geburtstag Martin Luthers am 10. November 1933 ihren heutigen Namen erhielt, und zwar mit ausdrücklichem Verweis auf Luther als „Ahnherren des Antisemitismus“?

Auch für die Hamburger „Zeit“ ist „Luthers notorische und radikale Judenfeindschaft“ der „größte Sündenfall“, an dem es „nicht viel zu deuteln“ gäbe und sieht einen entscheidenden Kollateralnutzen der Luther-Dekade darin, dass „noch nie auf derart hohem Niveau über protestantische Judenfeindschaft gesprochen, geforscht, geschrieben (wurde) wie heute.“ („Die Zeit“, 19.11. 2015 u. 14.12.2016)

Weniger im Fokus zu stehen scheint hingegen die militant-servile Haltung des Reformators gegenüber jeder Art von weltlicher obrigkeitsstaatlicher Gewaltherrschaft und sozial streng gegliederter Stände- und Klassenordnung als eine gottgewollte, die ihm das Attribut eines „Fürstenknechtes“ einbrachte: „Auf‘s erste müssen wir das weltliche Recht und Schwert wohl gründen, daß nicht jemand daran zweifle, es sei von Gottes Willen und Ordnung in der Welt. Die Sprüche aber, die es gründen, sind diese, Röm. 19: ‚Eine jegliche Seele sei der Gewalt und Obrigkeit untertan; denn ist keine Gewalt ohne von Gott. Die Gewalt aber, die allenthalben ist, die ist von Gott verordnet. Wer nun der Gewalt widersteht, der widersteht Gottes Ordnung. Wer aber Gottes Ordnung widersteht, der wird ihm selbst die Verdammnis erlangen.‘ Item 1. Petr. 2: ‚Seid untertan allerlei menschlicher Ordnung, es sei dem König, als dem Vornehmsten oder den Pflegern, als die von ihm gesandt sind zur Rache der Bösen und zu Lob der Frommen.‘“ („Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man Gehorsam schuldig sei“, 1523, in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Berlin 1916, S. 180). Es sind Sprüche wie diese, die Marx zu der Erkenntnis bewogen, jede Gesellschaftskritik habe mit Religionskritik zu beginnen.

Für den liberalen Soziologen Max Weber war dieses blinde Gehorsamsgebot der Kern der von Luther gestifteten protestantischen Ethik, die dem „Geist des Kapitalismus“ zu Grunde liege, so der Titel seiner berühmten religionssoziologischen Studie von 1905. Er sah in Luthers Ethos die Aufforderung an das Individuum, „grundsätzlich in dem Beruf und Stand (zu) bleiben, in den ihn Gott einmal gestellt hat, und sein irdisches Streben in den Schranken dieser seiner gegebenen Lebensstellung (zu) halten.“ Der darauf fußende „ökonomische Traditionalismus“ sei der „Ausfluß des immer intensiver gewordenen Vorsehungsglaubens, der den bedingungslosen Gehorsam gegen Gott mit der bedingungslosen Fügung in die gegebene Lage identifiziert“. Mit anderen Worten: „Einmal Plebejer, immer Plebejer!“ Und wehe den Revolutionären, die dazu anstacheln, dagegen aufzumucken und sich etwas anderes als diese Klassenherrschaft von Gottes Gnaden vorstellen können! Auch das ein Luther-Effekt.

Damit in dieser Gottesordnung die Untertanen auch ja nicht auf emanzipatorische Ideen kommen, dagegen aufzumucken und etwa ihren gottbegnadeten Herrschern zu Leibe rücken, bedarf es zu deren Schutz des weltlichen Schwertes. Dazu passen dann auch Luthers kriegssegnende Thesen. Mitten im 1. Weltkrieg, einem weiteren Jahrhundertjubiläum, wurde in Berlin Luthers Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“ (1526) neu aufgelegt. Ich fand davon im großväterlichen Nachlass ein Exemplar einer tournisterhandlichen Feldausgabe. Darin heißt es: „Darum ehrt auch Gott das Schwert, also hoch, daß er‘s seine eigene Ordnung heißt, und will nicht, daß man sagen oder wähnen solle, Menschen haben‘s erfunden oder eingesetzt. Denn die Hand, die solches Schwert führt und würgt, ist auch alsdann nicht mehr Menschenhand, sondern Gotteshand, und nicht der Mensch, sondern Gott hängt, rädert, enthauptet, würgt und kriegt. Es sind alles seine Werke und seine Gerichte.“ Welch religiös verbrämter Blankoscheck für jede Art von Kriegsverbrechen, der in keiner Feldpredigt vor Tannenberg oder Verdun gefehlt haben dürfte, ehe es hieß: „Helm ab zum Gebet!“ Gotteskrieger-Ideologen gibt es also nicht erst seit dem IS.

Diese Teile des Luther-Erbes gehören nicht weniger zum „Luther-Effekt“ wie seine Dissidenz zum päpstlichen Establishment in der Frage des Ablass-Handels. Wie die sich mit dem vom Bundestag gepriesenen „neuen christlichen Freiheitsbegriff“ vertragen, steht auf einem anderen Blatt.Dass die Reformation Musik, Kunst und Literatur entscheidend geprägt habe, dürfte bei dem ganzen Erinnerungs- und Gedenkbetrieb am wenigsten strittig sein. So hat sich der Kulturring in Berlin, seinem laizistischen Charakter gemäß, mit seinem bescheidenen Beitrag zum Luther-Jahr dann auch auf das sichere Gebiet der Musik zurückgezogen, in der Luther ja bekanntlich ein wichtiges Medium für seine theologische Mission erblickte. Sie habe einen außerordentlich moralischen und seelischen Einfluss auf die Menschen und sei ein wirksames Mittel gegen „Zorn, Zank, Hass, Neid, Geiz, Sorge, Traurigkeit und Mord“, so der Reformator. Sein Wort in Gottes Ohr, wenn man so sagen darf, wenn im Kulturbund-Club in Baumschulenweg am 10. Oktober, 19 Uhr, die Solistinnen Ute Metzkes und Henriette Jüttner-Uhlich und der Schauspieler Martin Laubisch mit ihrer musikalischen Lesung „Luther und seine Zeit“ eine literarisch-musikalische Reise durch das Europa der Reformationszeit unternehmen und weniger bekannte zeitgenössische Komponisten zu Gehör bringen.

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