Deutschland, einig Vaterland

Ingo Knechtel

lautete eine Zeile, die Johannes R. Becher 1949 – im Oktober vor 70 Jahren – in die Hymne des einen Deutschlands geschrieben hatte, und wir lernten und sangen diese Zeilen, auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, noch in meinen ersten Schuljahren bis zum Anfang der 1970er Jahre. Der Text war danach passé. Erst als vor nunmehr 30 Jahren Grenzen und Mauern zwischen den beiden Deutschlands zu Fall gebracht wurden, sind wir einen Schritt weiter gekommen mit der Einigkeit, dem Recht und der Freiheit. Aber einig sind wir uns denn doch nicht. Müssen wir es denn eigentlich sein? Das frage ich mich, wenn ich die alte Hymne höre. Einheit oder Einigkeit in einer Nation, schon das geht ja nur in Vielfalt und mit viel Toleranz – wie wir derzeit in unseren Landen erfahren. Unterschiede als Herausforderungen zu begreifen, sie in Triebkräfte der Veränderung zu verwandeln, ist nicht immer leicht, besonders für die unmittelbar Betroffenen. Immer mehr wird einiges Handeln sogar europäisch und darüber hinaus global notwendig. Das einige Deutschland bleibt zwar ein Land der Deutschen, an vielen Namen der heute in Deutschland Geborenen erkennen wir aber, das deren Eltern einst ganz woanders beheimatet waren. Wenn wir in die Geschichte schauen, ist das aber nichts Neues. Es war immer schwer für die Zuwanderer. So wie es für viele der Hiesigen schwer war und ist, wenn sie die vermeintlich Schwächeren, die „Opfer“ sind. Ausgrenzung ist in der Tat ein Problem für dieses Land, denn es trägt damit eine schwere Last. Ausgrenzung suggerierte „den besseren Deutschen“ oder den „reinen“, den gesunden. Die anderen gehörten nicht dazu. Und wenn ich dann vom heutigen Botschafter Polens in der Berliner Zeitung am 30. August lese, sein Land sei gegen die „LGBT-Ideologie, gegen Frühsexualisierung“ und wolle „eine gesunde Gesellschaft“, dann tut mir das richtig weh. Und ich muss nicht näher begründen warum. Wo beginnt und wo endet eine Diskriminierung? Ein weiteres Beispiel: Würde heute in einem Text für eine neue Hymne das Wort „Vaterland“ noch gesellschaftlich akzeptiert? Sind wir dank der Bewegungen in West und Ost, auch der völlig anderen Rolle der Frau in der DDR, in der Gegenwart nicht viel weiter? Zumindest wird heute sehr viel und sehr kontrovers darüber diskutiert. Und das in aller Öffentlichkeit! Ein großer Fortschritt in den letzten 30 Jahren, finden Sie nicht? Jahrestage sind immer Anlass zu reflektieren, aber auch neue oder verbliebene Mauern in den Köpfen zu vertreiben. Dazu will der Kulturring mit den Veranstaltungen in seinem Themenmonat beitragen. Wir laden Sie herzlich, ein dabei zu sein. Denn je mehr Gräben in diesem Europa, in diesem Land zugeschüttet werden, desto besser ist es auch für uns in unser aller Heimat.

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