Wie spricht man über Migration?

Francesca La Vigna

Das Kollektiv migrantas entwickelte eine neue Sprache

Mobilität, Migration und Interkulturalität sind in unserer Welt keine Ausnahme mehr, sondern die Regel geworden. Berlin ist ein Beispiel par excellence, mit all den Chancen und Herausforderungen, die ein buntes und vielfältiges Zusammenleben mit sich bringt. Trotzdem sind Rassismus und soziale Exklusion Phänomene, die unsere Gesellschaft zum Teil noch prägen. Oft ist eine solche Einstellung gegenüber den „Anderen“, den „Fremden“ mit einem falschen Bild oder Stereotypen verbunden. Das Thema Migration steht heute mehr denn je im Mittelpunkt von politischen Diskussionen aufgrund der sogenannten Flüchtlingskrise, und die Gesellschaft ist gespalten. Die Medien spielen eine wesentliche Rolle in diesem Prozess, sowohl bezüglich der Präsentation von Episoden, die im „Ausland“ stattfinden, als auch wenn es um unsere direkte Umgebung geht. Mengen und Zahlen, Kosten und Beschränkungen dominieren die Nachrichten. Aber wo bleiben die Erfahrungen und die Gefühle der Betroffenen? Wo steht der Mensch?

Initiativen wie die Podiumsdiskussion „Unsere Bilder von Flucht“ im Rahmen der facettenreichen Gruppenausstellung „Woher – Wohin“ in der Fotogalerie Friedrichshain am 19. Januar 2017 zeigen, wie dringend es ist, die Gesellschaft mit der moralischen Frage der Darstellung und Begegnung mit den „Anderen“, in dem Fall den Geflüchteten, zu konfrontieren. Kunst kann in all ihren Formen einen bedeutenden Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Thema leisten. Sie erzeugt Aufmerksamkeit, bietet Raum für Austausch und kann vor allem den Menschen wieder in den Mittelpunkt bringen. Die Verbindung von sozialem Engagement und künstlerischen Formen ist in Berlin besonders ausgeprägt. Und genau in dieser Stadt fing 2004 ein sozio-kulturelles Projekt an, das Migration und Identität thematisiert: das Kollektiv migrantas.

Ausgangspunkt der Arbeit des Kollektiv migrantas ist die Notwendigkeit, die Stimmen von denjenigen, die nicht sichtbar sind, in die Öffentlichkeit zu bringen. Seit über zehn Jahren entwickelt migrantas durch eine einfache bildliche Darstellung eine visuelle und universelle Sprache der Migration, die einen interkulturellen Dialog innerhalb der Gesellschaft initiieren könnte. So soll ein gegenseitiges Verständnis, das Kennenlernen und daraufhin ein besseres Zusammenleben gefördert werden.

Die Mitglieder des Kollektivs, in erster Linie die Gründerinnen aus Argentinien Marula Di Como und Florencia Young, sind selbst überwiegend nach Deutschland eingewanderte Frauen und haben in Berlin ihre neue Wahlheimat gefunden. In zahlreichen Projekten verbindet migrantas Kunst, Design und Sozialwissenschaften. Ziel ist es, mittels Piktogrammen die Gedanken, die Gefühle und die Erfahrungen von Einwander*innen im Stadtraum zu zeigen. Die Projekte des Kollektivs richten sich seit 2005 an Bürger*innen und Migrant*innen jeden Alters (von Erwachsenen bis Kindern), Hintergrunds, Sozial- und Aufenthaltsstatus’. Tausende Menschen haben während Workshops in Deutschland und im Ausland ihre Geschichten mit Zeichnungen erzählt, die später migrantas in eine neue künstlerische Form übersetzt hat. Aus mehr als 1500 Zeichnungen wurden bisher über 230 Piktogramme produziert, welche die gemeinsamen Themen zusammenfassen.Die Migrant*innen erkennen sich wieder in diesen vereinfachten Figuren, die aus deren Zeichnungen entstehen und die zu Botschaftern derer Gefühle werden. In der Öffentlichkeit erscheinen sie auf Plakaten, Tragetaschen, Postkarten, Aufklebern oder Flyern, sogar als Animationen auf U-Bahn-Bildschirmen oder auf Zaunbannern. In diesem künstlerischen Wiedergeben werden nicht nur schwierige oder negative Erfahrungen dargestellt, sondern auch glückliche und positive Erlebnisse in der neuen Heimat. Bilder, genauso vielfältig wie die Menschen, die davon erzählt und gezeichnet haben.

Projekte wurden in fast jedem Stadtbezirk Berlins durchgeführt, und 2011 wurde migrantas der Hauptstadtpreis für Toleranz und Integration durch die Initiative Hauptstadt Berlin e.V. verliehen. Das erste Projekt „Integration - Lauter Bilder von Migrantinnen in Berlin“ mit Frauen aus 19 verschiedenen Ländern fand 2005 sein Zuhause in Neukölln, und dessen Ergebnisse, einschließlich der originalen Zeichnungen der Workshopteilnehmerinnen, wurden in einer Ausstellung präsentiert. Näher zum heutigen Datum wurden Frauen Ende 2016 in Spandau und Marzahn-Hellersdorf in zwei neuen Projekten involviert.

Mit der Serie von 19 Piktogrammen mit dem Titel „Brauchst du Hilfe?“ unterstützte migrantas die Kampagne des Spandauer Netzwerks gegen häusliche Gewalt in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Spandau von Berlin, Abteilung Soziales und Gesundheit, und der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Senatsverwaltung für Arbeit und Integration.

Bis zum 17. Juli ist die interaktive Skulptur „Drehbare Geschichte“ auf dem Victor-Klemperer-Platz in Marzahn-Hellersdorf zu sehen. Wie bei allen migrantas-Aktionen handelt es sich nicht um eine willkürliche Entscheidung des Kollektivs, sondern es ist das Ergebnis unterschiedlicher Geschichten von Migrant*innen. Die Piktogramme auf der Skulptur wurden von den Besucherinnen des Nähcafés im Stadtteilzentrum Marzahn-Mitte im Dezember 2016 als Symbol der gesellschaftlichen Teilhabe im Kiez ausgewählt. Sie sollen die interkulturelle Realität des Bezirks widerspiegeln, und die Bewohner*innen sind eingeladen, ihre Nachbarschaft mittels des Kunstwerks anders zu betrachten bzw. zu erkunden. Man braucht authentische Bilder und persönliche Begegnungen, um Stereotypen abzuschaffen und sich gegenseitig zu verstehen und zu akzeptieren. Das Kollektiv migrantas versucht seinen Beitrag im Kleinen zu leisten.

Weitere Informationen unter www.migrantas.org Francesca La Vigna ist seit 2013 Mitglied des Kollektivs migrantas und schließt gerade ihren Master in Kulturmanagement und Kulturtourismus an der Universität Europa-Viadrina, Frankfurt/Oder, ab. Der Artikel entstand im Rahmen ihres Praktikums in der Fotogalerie Friedrichshain.

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