Entscheidung zwischen Ungewissheit und Ungewissheit

Dagmar Gleim

Wie lange waren Sie nicht im Theater? Schon vergessen? Ist ja trotz Interesses meist ein mühseliger Anfahrtsweg, sowohl mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, als auch mit dem Auto. Dazu kommt zum Kunstticket das Transport- oder Parkticket. Selig sind die, die nicht weit laufen oder fahren müssen und trotzdem die Kunst genießen können. Um die Ecke quasi. Denn, wenn Berlin etwas zu bieten hat, dann sind das die unzähligen Kunststätten, meist mit dem Präfix „Off“ versehen, was den Besucher eine unangepasste, unkonventionelle und experimentierfreudige Aufführung erwarten lässt. In vielen Stadtteilen gibt es diese Kunstorte im „Off“-Stil, es herrscht hier zum Glück kein Mangel.

Ob die überwiegend kleineren Stadtteilbühnen ein vergleichbares Interesse hervorlocken wie die großen Häuser, sollte am ersten Spieltag Mitte März auf den Prüfstand gestellt werden. Ins Visier genommen wurde das Freie Theaterwerk Gavroche (benannt nach einer Figur in Victor Hugos Werk „Die Elenden“, der Name bedeutet Straßenkind). Die Theatertruppe, Mitglied im Kulturring in Berlin e.V., führte das Stück „Ich!Entscheide!Dich!“auf. Spielort war die Christuskirche in Oberschöneweide, Firlstraße.

Dass Kirchen immer mal wieder als säkulare Aufführungsstätten dienen, wobei es sich oft um musikalische Auftritte handelt, ist nicht neu; neu ist, dass die Christuskirche diesmal nur als Spielstätte für die Freie Theaterwerkstatt Gavroche zur Verfügung steht. Das ganze Mittelschiff dient als Bühne und ist damit auf gleichem Niveau mit den Zuschauern. Es ist eine als „work in process“ deklarierte Produktion, was so viel bedeutet wie das Einbeziehen der Entwicklung eines Kunstwerks in die aktuelle Präsentation. Ein Stück im Fluss, mit ad-hoc-Drehungen und -Wendungen und aus dem Stegreif vorgetragenen Einlassungen. Das Drehbuch ist die Matrize, die Darstellung, die situativ angepasste Version. Am Freitag, dem 17. März, fand die Premiere statt, und am Samstag darauf war Einlass für alle neugierigen Besucher. Das Publikum war im Großen ein junges, in einer Phase zwischen Abi und Ausbildung oder Studium befindlich. Aber für genau diese Gruppe war das Stück geschaffen worden! Befinden sie sich nicht auch in einem Stadium, in dem sie noch nicht so genau wissen, was auf sie zukommt? Genauso geht es den Darstellern, den Figuren, die sie darstellen sowie ihnen selbst. Haben sie schon Ideen, was sie einmal machen möchten, Ziele, auf die sie zusteuern wollen? Können sie das „Wenn und aber“ der jeweiligen Entscheidung voraussehen? Hat nicht jedes Alter ein Recht auf Fehleinschätzung, Missverständnis, Entscheidungsblockade?

Im Stück geht es um zehn junge Leute, die mit drei seltsamen Fragen konfrontiert werden. Sind die Fragen erfolgreich beantwortet worden, werden sie mit einem Platz in einer WG belohnt. Die Fragen beziehen sich auf deren Zukunft: Wie willst du leben? Wie willst du sterben? Wofür setzt du dich ein? Ziel der Leiterin der künstlerischen Umsetzung, Saskia Lily Thomas, ist die Bewusstmachung dieser drängenden Fragen. Die Darsteller bekommen so spielerisch ein Werkzeug mit auf ihren Lebensweg. Sie sind so leidenschaftlich, wie sie sich in Szene setzen, eben auch noch im Umbruch. Schüler, deren Zukunft sich hinter dem Vorhang des Schulabschlusses befindet. Sie brauchen auch Antworten, zumindest die Reife, um die richtigen Fragen zu stellen. Mit ihrer dynamischen Art rüttelt Thomas nicht nur die Zuschauer auf, sondern schult die Mimen mittels einer Fiktion, das reale Leben meistern zu können.Im Stück bleibt derweil der Sinn den Jugendlichen erst einmal verborgen, der Zuschauer rätselt mit. Ein nicht sichtbarer Vermieter bringt sie so in eine Wettbewerbssituation. Dieser Anwartschaft für die Wohnung soll nach einem Vierteljahr die Entscheidung folgen, wer in der WG blieben darf und wer nicht. Die Darsteller tanzen in das Stück, musikuntermalt, und stellen sich in diesem Lauf vor. Aus dem, was sie mitteilen, lässt sich schon ein Stück Zukunft erahnen, eine Figur stellt sich als Veganerin vor, einer freut sich, nach dem Auszug aus dem Elternhaus endlich die Freiheit gefunden zu haben, eine andere spricht über Mobbing in der Schule, klagt Solidarität ein. Auch Konkurrenz und Rivalität im Leben wird zwischen den jungen Leuten thematisiert. Die Figuren sind im Kontrast zu ihrer uniformen, schwarzen Kleidung sehr individuell, sowohl in der Darstellung, als auch in den diversen Eigenschaftszuschreibungen, den Ängsten und Nöten, Eitelkeiten und queeren Auftritten. In der Trauer über die Trennung der Eltern weiß einer nicht, wohin er gehört, ist er doch beiden Eltern liebevoll zugewandt. Auch er muss sich in seinen jungen Jahren entscheiden, wie er mit dem Bruch des einst Intakten umgehen soll. Die Darsteller spielen schön heraus, wie schwer das ist, seine eigenen Gewohnheiten, Ansprüche, Ideenrealisierungen zugunsten der Gemeinschaft zurückstellen zu müssen. Aber auch das Verteidigen der eigenen Positionen ist nicht leicht. Damit hat jeder auf seine Weise zu kämpfen, auch die schwangere Mitbewohnerin der WG, die nachts heimlich etwas aus dem Eisfach der anderen stibitzt. Liebeskummer, Verletzungen, Präpotenz, Streit und Geschrei kommen hinzu. Wer muss die WG verlassen? Jeder zeigt mit dem Finger auf einen jeweils anderen und bezichtigt ihn oder sie, ein Störenfried zu ein. Ene mene muh, raus bist du!

Nein, das ist nicht das Ende der Wohngemeinschaft. Ihre Aufgabe war, Entscheidungen für die eigene Zukunft zu treffen; hier sind sie wieder sehr stark, die Darsteller, wie sie mit Körper und Worten ringen, um eine Entscheidung zu treffen. Doch sie trauen sich nicht. Das birgt zu viele Gefahren, Unwägbarkeiten, Irrtümer. Es scheint, als möchten sie lieber im Fluss des Lebens, situationsangepasst, die jeweils richtige Entscheidung treffen. Im Schlussakt kommen sie alle wieder aufeinander zu. Sie versöhnen sich, wollen einander helfen, nicht gegeneinander agieren, das hat Zukunft. Raus bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie sozial du bist.

Ein Nachsatz apropos Fairness und Teilnahme: Das Freie Theaterwerk Gavroche arbeitet mit allen, dem Theater(betrieb) zur Verfügung stehenden Mitteln daran, dass vorrangig Kinder und junge Leute, aber auch Erwachsene, nicht aus finanziellen oder welchen Gründen auch immer von der Teilhabe am Besten der Kultur ausgeschlossen werden. Der Ansatz für die Arbeit ist die Schaffung eines Nährbodens für Selbstvertrauen und für den Glauben an das Erkennen von Möglichkeiten.

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