Heimat

Rudolf Herz

Jeder Mensch empfindet in seinem Erdenleben einen Flecken, den er als Heimat für sich beansprucht. Meist ist es der Ort, in dem man geboren wurde, wo man aufgewachsen ist, die Kindheit und Jugend erlebt, die Geborgenheit und Fürsorge durch die Familie genossen, erste Freunde und vielleicht auch die erste Liebe und vieles mehr erlebt hat. In Gedanken und im Herzen bin ich dem Mansfelder Land und meinem kleinen Heimatdorf am südlichen Rand des Harzes immer treu geblieben, obwohl ich es schon vor 60 Jahren verlassen habe.

Heimat – was ist das für mich?

Heimat ist eigentlich viel mehr, ist eigentlich alles, was uns selbst ausmacht. Vor allem aber unsere Herkunft, unser Gefühl für Menschen und Landschaften, die uns auch dann noch vertraut sind, wenn wir sie lange nicht gesehen haben und unzählige ganz persönliche Erinnerungen daran. Es hat die Natur so eingerichtet, dass gerade diese Erinnerungen im Langzeit-Gedächtnis detailgetreu erhalten bleiben.

Heimat, das ist für mich das kleine Dörfchen, umringt von fruchtbaren Feldern und – wie auf einer Insel – eingegrenzt von dichten dunkeln Wäldern. Da ist aber auch der typische Geruch, der von den Ställen der Bauern herüber weht, der Duft der Wälder im Frühling, der Dunst, wenn die Getreidefelder abgeerntet werden, und der Qualm der Feuer, wenn das Kartoffelkraut verbrannt wurde, natürlich auch die darin gebratenen, schwarz gebrannten Knollen. Das ist aber auch die Mundart, der typische Dialekt, in dem ich sprechen gelernt habe und der mir immer vertraut blieb, den ich auch heute noch verstehe und sofort wieder sprechen kann.

Heimat, das sind die Freunde der Kindheit, von denen die Besten immer meine Freunde geblieben sind. Heimat, das sind für mich Erinnerungen an erste Wahrnehmungen und Gefühle, an den Geruch von frischem Bäckerbrot, an die Eintopfsuppen meiner Oma, an die reifen Äpfel, die meist in fremden Gärten reiften, an die frische Wurst, wenn im Winter ein Schwein geschlachtet wurde, und an das frische, kühle Wasser aus den Dorfbrunnen und den Quellen im Walde, die besser schmeckten als die teuren Mineralwasser heutzutage.Das sind auch die Erinnerungen an die ersten Spielzeuge, die Weihnachtstage und das Pfingstfest, wo das ganze Dorf auf den Beinen war.

Heimat, das war auch die Schule, wo ich Lesen und Schreiben erlernt habe und erste Vorstellungen von Ordnung und Disziplin erwerben musste. Ich erinnere mich auch noch an das Geläut der drei Glocken auf dem Kirchturm, von denen später zwei heruntergeholt und für den Krieg eingeschmolzen wurden.

Zur Heimat gehören auch die düsteren und denkwürdigen Erinnerungen an den Krieg. Viele junge Männer, die ich auch persönlich gekannt habe, kamen nicht zurück. Mangel und Entbehrungen, aber auch die Solidarität der Menschen, vor allem mit den Flüchtlingen oder Umquartierten, kann man nie vergessen.

Ich lernte sehr früh, Menschen zu beurteilen, sie einzuschätzen und zu achten.

Der Krieg, das erlebte Kriegsende und die Zeit des Aufbaues waren die Grundlage für meinen Entschluss, alles zu tun, dass nie wieder Krieg sein möge. Daher ist es mir nicht schwer gefallen, mich in den Aufbau des jungen Arbeiter- und Bauernstaates einzubringen, der auch im gewissen Sinne und anderer Dimension zu meiner Heimat wurde.

Wenn man vorwärts strebt, besonders dann, wenn man in die weite Welt hinaus kommt, um dort zu leben, da sollte man wissen, wo man herkommt und wo man hingehört. So wie ein Baum seine Wurzeln hat, ohne die er nicht leben kann. Der Gedanke an die Heimat erweist sich dann als ein hilfreicher Maßstab und willkommener Kraftquell. Das bedeutet aber auch, dass man sich in neuen unbekannten Gefilden erst einmal anpassen muss und mit den eigenen Erfahrungen und Vorstellungen das neue Leben gestaltet.

Es gibt unzählige Menschen, die ihre Heimat verlassen und nie wieder dorthin zurückkehren. Für die ist die Integration in eine neue, unbekannte Welt, die später vielleicht für die Kinder und Enkel zur Heimat wird, besonders wichtig. Ich kann es heute, nach über 60 Jahren, einschätzen. Die damals als Kinder und Umsiedler in unsere Dörfer kamen, sind heute als solche überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Die meisten haben auch alles getan, um sich eine neue Existenz und somit eine Heimat zu schaffen.

So wie Kriege keine Gesetze der Natur sind, so sind auch Flüchtlingsströme von Menschen gemacht. Die daraus entstehenden Konflikte werden komplizierter, vor allem, wenn es um die Integration von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen geht.

So bleibt zu hoffen, dass es der Menschheit bald gelingt, den Grundwiderspruch zwischen arm und reich ein für alle Mal zu lösen. Ob das überhaupt gelingt, bezweifele ich sehr. Deshalb gibt es auch für uns, solange wir auf dieser Erde leben, Gelegenheiten und Anlässe, unsere Erfahrungen und Erkenntnisse in die Gestaltung einer friedfertigen und existenzsicheren Menschengemeinschaft einzubringen.

Wir sollten immer daran denken, jeder noch so kleine Tropfen höhlt den Stein.

Unser Autor ist Mitglied der Schreibwerkstatt Friedrichsfelde im Kulturring. Über Annarode im Mansfelder Land hat er das abgebildete Buch veröffentlicht.

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