MAE im Medienpoint Steglitz

Eine Glosse von Gudrun Schulz*

Meine AGH-MAE (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung) ist gerade beendet, und ich blicke dankbarst zurück auf sechs Monate vollster, zufriedenster Beschäftigung. Geistig und körperlich wiedererstarkt, sollte meiner späten beruflichen Karriere nun nichts mehr im Wege stehen. Zunächst einmal erfüllte auch ich alle Ansprüche, die an Langzeitarbeitslose wie mich gestellt werden und die zur Teilnahme berechtigen: Ich wusch mich unregelmäßig, ich aß unregelmäßig, ich schlief bis in die Mittagsstunden, ich wusste den aktuellen Wochentag nur aus meiner Fernsehzeitung, ich war faul, bewegungsarm, unmotiviert, uninteressiert, sozial abgeschnitten und perspektivlos.

Doch kaum, dass mir das Glück hold war und ich eine der heiß begehrten Jobcenter-Maßnahmen im Medienpoint Steglitz erhalten hatte, änderte sich mein Leben quasi über Nacht. Ich betrat eine neue kleine Welt mit unendlichen Dimensionen. Doch diese erschlossen sich mir erst später...

Zunächst einmal lernte ich, täglich zur gleichen Stunde Kaffee zu kochen. Ich begann wieder, meine eigene Stimme zu hören, Kollegen und Kunden zuzuhören, bewegte Gesichter live und nicht aus dem Fernseher wahrzunehmen, zu kommunizieren, zu interagieren. Ich lernte herauszufinden, welcher Kunde bedient und beraten werden mochte und welcher lieber still und selbstständig durch die prall gefüllten Bücherregale zu stöbern wünschte. Ich merkte mir, welcher Kunde zu den Stammkunden zählte und welcher Gespräche mehr suchte als kleine bedruckte Schätze. Kunden mit einem ausgeprägten Gesprächsbedarf überließ ich gerne meinem Kollegen, schließlich ging es in der Maßnahme auch darum, Arbeitsteilung und Kollegialität neu zu erlernen.

Das tägliche Herumhüpfen zwischen den eng gestellten Regalen, das Stemmen von Büchern, das Bücken und Heben und Strecken darf sicherlich als gesundes körperliches Aufbauprogramm bezeichnet werden. Das Beste daran war, dass ich derart damit beschäftigt war, die Bücherspenden an den richtigen Platz zu stellen, dass ich mir dessen gar nicht bewusst war. Mein körpereigenes Fett wurde quasi überlistet, sich unbemerkt in Muskelmasse umzuwandeln. Ich kannte die unterschiedlichsten Kriterien, nach denen Bücher, CD‘s, DVD‘s, Schallplatten und VHS-Kassetten sortiert wurden. Ich kannte die Regal-Standorte der weit über 50 verschiedenen Themenbereiche und endlich auch den Standort des Medienpoints selbst.

Wochenlang war ich, von der Schloßstraße kommend, immer wieder an der Deitmerstraße vorbeigelaufen. Kein Abzweig und keine Querstraße der Steglitzer Einkaufsmeile kommt schließlich derart unscheinbar und unauffällig daher. Nun war ich endlich eingearbeitet und selbst in der Lage, auch umfangreichere Spendeneingänge inhaltlich zu erfassen und einzusortieren. Während die Kunden in der Regel lediglich ihre Interessengebiete im Laden ansteuerten, so öffneten sich mir mit jedem Spendeneingang neue Dimensionen. Jede größere Bücherspende kam dem Öffnen einer Wundertüte gleich. Mein Geist arbeitete stets auf Hochtouren, um anschließend zu trennen, was ich hier scheinbar zusammengehörig aus ein und derselben Spendentasche zog. So touchierte der Mittelstrahlurin die Werke von Kleist, Benimmbüchlein aus den 60er Jahren befanden sich in direkter Nachbarschaft zu russischen Schmuckdosen.

Auch einige meiner Kollegen empfanden diese Arbeit als Bereicherung und Beglückung. Und so entstanden immer wieder kleine gesellige Lesungen im Hinterzimmer. Denn wer die skurrilsten Werke in den Händen hielt, der konnte nicht umhin, darin zu lesen und daraus vorzutragen.

Das werde ich vermissen.

* Der Name des Autors wurde auf Wunsch verändert, er ist der Redaktion bekannt.

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