Gott wohnt nicht in Rom. 500 Jahre Reformation

Dagmar Gleim

Können wir uns heute überhaupt noch vorstellen, mit welcher Wucht Luthers radikales Tun und Denken eingeschlagen sein muss, in einer Zeit, in der europaweit eine feudale Ordnung, von weltlichen und geistlichen Herrschern regiert, festlegte, wer wo seinen Platz hatte und wem die Auslegung des damals einzig gültigen Glaubens zustand? Oder gewichten wir etwa seine Taten gar zu sehr? Unumstritten war Luther jedenfalls nicht.

Luthers Kraftakt gegen die klerikale Obrigkeit sollte zwei gegensätzliche Seiten seines Wesens offenbaren. Er hat einem verkrusteten System ein paar empfindliche Prankenhiebe versetzt, gleichzeitig weckte er in den Herzen und Köpfen der Unterdrückten , die seine These missdeuteten , die Hoffnung auf Freiheit – ein fataler Irrtum, wie sich herausstellte. Die abgabepflichtigen Bauern hatten nicht verstanden, dass Luther nur die Freiheit im Geiste meinte. Was ist bis heute hängen geblieben? Die Neuinterpretation der heiligen Schrift? Seine für alle verständliche Sprache? Sein Credo, ein jeder Christenmensch stehe allein vor Gott, dem Herrn? Und wie begeht Deutschland dieses Ereignis vor einem halben Jahrtausend, als Luther seine ganze Wut über die Amtsträger der Kirche in die Formulierung und Veröffentlichung von 95 geharnischten Thesen presste, wider die Praxis, die Sünde mit Geld aufzuwiegen?

Welchen Niederschlag hat das in diesen, den heutigen „rohen“ Zeiten, angesichts der Flüchtlingsdramatik, Stellvertreterkriege, der Kämpfe um Deutungshoheit, wie mit Krisen, wie Altersarmut, Ungleichheit zwischen Arm und Reich, Auswirkungen der Agenda 2010, Kanzler(in)wahl u.v.a. umzugehen sei? Relativ neu ist, dass die extreme Rechte mitmischt, und zwar erfolgreich, unterfüttert von hässlichen Parolen und noch schlimmeren Taten der Basis. Ihr Auftreten ist das von Moralisten im Mantel des christlichen Glaubens. Taktik? Glaubt da überhaupt noch jemand an eine metaphysische Kraft, auch gerade in Hinblick auf aktuelle soziale, technische und heterogene Umwälzungen hier im Land? Zumindest die Autorin kennt keinen aus ihrem Bekanntenkreis, der christlichen Glaubens ist, oder dieses kommunizieren würde. Glaube ist etwas für schlichte Gemüter. So die gefühlte Wahrnehmung.

„Mancher Unglaube ist ja nur ein anders angewandter Glaube.“ Wir wissen nicht, wie Jean Paul das gemeint hat. Es klingt liberal, Luther hätte das sicher nicht so gesehen. Ein jeder glaubt nach seinem Verständnis? Nein, seine drei Stützpfeiler waren: sola fide, sola gratia, sola scriptura.1 Werfen wir einmal einen kleinen Blick auf die Vita dieses streitbaren Charakters. Martin Luther wollte vor 500 Jahren sagen, was wahrhaft christlich ist und was nicht. Im Detail war es ihm um die Rechtfertigung des Menschen vor Gott gegangen. Ihn ließ die Sorge nicht los, wie er dem Zorn Gottes entgehen könne. Als sichere Wahrheit ließ er nur gelten, was in der Bibel begründet war. Die Amtsträger der Kirche lehnte er als Verwalter und Mittler des Heils ab. Der Geistliche bekam von ihm keine Sonderstellung unter den Gläubigen zugewiesen. Dieses offenbarte er in seiner Streitschrift und forderte somit die ganze Geistlichkeit, ja die ganze Gesellschaft heraus. Die Erstgenannten verlangten die Verhängung der Reichsacht2, die anderen, Geknechteten, fanden mit Luthers Thesen die Rechtmäßigkeit ihres Kampfes für soziale Gerechtigkeit. Für Luther war das nicht statthaft, er wollte keine Vermengung geistlicher und weltlicher Ziele.3 Ein großer Fehler, aber er war wohl noch nicht in der Lage, die Auswirkung seiner Schriften zu antizipieren. Rollt erst einmal der Stein, wird vieles mitgerissen, auch, wie in diesem Fall, die soziale Ordnung. Er nahm in Kauf, dass die Bauern durch Truppen der Landesherren auf grausame Weise niedergerungen wurden. Der Rechtsstatus, der durch gnadenlose ökonomische Ausbeutung die Feudalgesellschaft am Leben erhielt, blieb nach der Niederwerfung der Gleiche.

Mit seiner Übersetzung des Testaments hat Luther hingegen Bemerkenswertes geleistet. Er schaffte es, dieses in die deutsche Sprache zu übersetzen, die an Anschaulichkeit und Innigkeit des Ausdrucks die zahlreichen älteren Übersetzungen übertraf. So entstand die neuhochdeutsche Gemeinsprache. Damit hat er Gigantisches bewirkt, nennen wir es religiöse Emanzipation und damit eine Individualisierung des Einzelnen. Zwei christliche Glaubensbekenntnisse entstanden, aber auch Auseinandersetzungen und Kriege, die geführt wurden nicht nur, aber auch des Glaubens wegen.

Im Hier und Jetzt treibt jedoch eine andere heilige Schrift und deren Lesart die meisten Deutschen um, auch die, die sich als Atheisten verstehen. Sie wurde vertrieben in Fußgängerzonen Nordrhein-Westfalens, auf Marktplätzen, vor Bahnhöfen und Einkaufszentren. Sogar auf der Buchmesse war sie präsent. Die Rede ist vom Koran in deutscher Übersetzung. Er wurde von Salafisten kostenlos an Passanten verteilt. Seit 2011 läuft die umstrittene Kampagne „Lies!“. Der Inhalt orientiert sich an der islamischen Frühzeit. Das Ziel ist die vollständige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem salafistischen Regelwerk. Die Vereinigung „Die wahre Religion“ zeichnete dafür verantwortlich. Mittlerweile ist sie in Deutschland verboten worden. Die kostenfreie Abgabe hatte offenbar das Ziel, junge Menschen zu überzeugen, dem IS4 beizutreten.5 Abdel Samad, ein ägyptisch-deutscher Politikwissenschaftler, verweist auf die Naivität des Inhalts und sagt: „Der Koran ist wie ein großer Supermarkt“. Er enthalte Aufrufe zum Frieden und zur Gewalt. Passt das zusammen? In einem Interview zeigte er viel Unverständnis über die Unsitte, die Suren wie ein Kochbuch zu lesen und sich das rauszupicken, was gerade benötigt wird.

Hätte man Luthers Bibel auch für einen gut sortierten Glaubenspool halten können? Für jeden etwas Passendes, ein Schnäppchen dabei? In Europa passiert nämlich momentan Erstaunliches. Nach Jahrzehnten, in denen die Religion, insbesondere die christliche, in unseren Breitengraden auf dem Rückzug schien, spielt das Christentum im politischen Feldzug plötzlich wieder eine zunehmend große Rolle. Populisten haben die Religion wieder aus der Kiste geholt, und sei es nur zur sicheren Abgrenzung zum vermeintlich Fremden. Sie denken dabei nicht an Luther, der hätte mit seinem Glauben auch keine taktischen Spielchen gespielt. Sie wollen Diversität in Glauben, Aussehen, Denken, Handeln nicht dulden, weil Vieles ihrer Meinung nach nicht vereinbar ist mit der christlichen Tradition, der man sich verpflichtet sieht. Dabei ist es weder nötig noch zwingend, Christ zu sein, um an einer stabilen, friedlichen, multilateralen Gesellschaftsordnung zu arbeiten, oder, wie es Marc Aurel formulieren würde: Die Sünde eines anderen muss man auf sich beruhen lassen.

Nicht jedem ist klar, dass das, was im frühen 16. Jahrhundert als eine Art Win-Win-Situation für Büßer und ehrgeizige Kardinäle begann, die ursprüngliche Architektur an Glauben, Gesellschaftsgefüge, Kunst, Auslegung, Macht und Hierarchie letztlich zu Fall bringen sollte. Mit Spuren bis in die heutige Zeit. Neben Macht, Ressourcen und territorialen Ansprüchen ist es eben auch der Glaube und seine jeweilige Auslegung, an der eisern festgehalten wird, und sei es mit Gewalt. Bis heute. Die Erwähnung Nordirlands mag als Beispiel genügen. Luthers Kampf gegen den Missbrauch des Ablasshandels, an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt, veränderte damit nicht nur die kirchliche Welt, sondern setzte eine Reformation in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur in Gang. Im Jubiläumsjahr feiert die Lutherstadt Wittenberg 500 Jahre Reformation mit kirchlichen und kulturellen Veranstaltungen, Tagungen und großen Ausstellungen. Auch die Lutherstädte Eisleben und Mansfeld sind eng mit Martin Luther und damit auch mit dem Reformationsjubiläum verbunden. Zu erleben und zu sehen sind u.a. Luthers Geburts- und Sterbehaus. Auf den Spuren Luthers mag ein Jeder für sich die Frage beantworten ob es Brücken zur Gegenwart gibt, einen Nachhall, der noch zu hören ist. Geschichte lebt und hat die Welt so gestaltet, wie sie jetzt erscheint. Auch von Luther wohnt ihr etwas inne.

KulturNews druckt diesen Beitrag als Auftakt zum Jubiläumsjahr der Reformation ab und lädt seine Leser damit zu einer Debatte darüber ein, wie sehr die Gedanken die Reformation noch heute wirken, wie sie uns beeinflussen, aber auch welche Rolle Religionen und der Glauben generell in unserer Gesellschaft heute spielen, welche Interaktionen zwischen ihnen und der Politik, aber auch der Kultur, ja den menschlichen Beziehungen generell existieren und uns beeinflussen. Die Red.

1 Allein der Glaube, allein die Gnade, allein die Schrift

2 Fried- und Rechtloserklärung im Mittelalter

3 S. a. die Schrift Luthers: „Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren“

4 Islamischer Staat

5 Die Aktion wurde verboten, Kampagne läuft aber über SMS weiter, siehe www.n-tv.de/politik/Salafisten-drohen-in-SMS-mit-Hoellenfeuer-article19219006.html

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