„.... und sah den Feuerschein auf der Kuppel der Synagoge“

Marita Waibel

Der 9. November 1938 war auch ein Mittwoch, so wie heute. 78 Jahre sind seitdem vergangen. Warum erinnern wir uns? Die Antwort ist einfach: Damit das nie wieder geschieht! Die Pogromnacht wurde in der NS-Zeit vom Volksmund „Kristallnacht“ genannt, weil die zerbrochenen Glasscherben vor den zerstörten Wohnungen, Läden und Büros, Synagogen und öffentlichen jüdischen Einrichtungen wie Splitter auf dem Boden lagen und unter den Füßen knirschten. An diesem Tag wurden Juden auf offener Straße gedemütigt und misshandelt und viele in den Folgetagen in Konzentrationslagern inhaftiert. Jeder konnte sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich die Menschen damals gefühlt haben und möchte dennoch versuchen, wenigstens ansatzweise zu verstehen, was unfassbar bleibt. Ich arbeite seit fast zwei Jahren im Rathaus Schöneberg für die Ausstellung „WIR WAREN NACHBARN“ - Biografien jüdischer Zeitzeugen und suche im Archiv der Erinnerungen nach Berichten.

„Auf dem Rückweg von einer Schulveranstaltung kam ich in der Grunewaldstraße an einer Menge vorbei, die johlend eine Schaufensterscheibe einschlug und aus dem Laden, aus der Auslage Wäschestücke im Arm stapelte. Auch ich wollte was mitnehmen, da wurde mir von hinten auf den Arm gehauen und jemand schrie in mein Ohr – hau ab! Nach Hause, das ist hier nichts für Kinder.“ Anneliese von Jassow, 2014

Liselotte S., 78 Jahre, schreibt: „Es war unvorstellbar, was sich am Kurfürstendamm getan hat. In der Nähe der Uhlandstraße haben sie aus der ersten Etage einen Steinway rausgeworfen, die SA.“Bruno Schulz, SS-Obersturmbannführer schreibt am 11. November 1938 an die Hausverwaltung „Terra“ Spar und Lebensversicherungs A.G.: „Als Mieter des Hauses – Wilmersdorf Nassauischestraße 64 – bitte ich veranlassen zu wollen, dass die Mieter jüdischer Rasse im Hause Nummer 64 aus ihren Wohnungen entfernt werden. Die Ereignisse der letzten 48 Stunden sowie meine grundsätzliche Einstellung als Nationalsozialist und SS-Führer verbieten es mir, mit Angehörigen der jüdischen Rasse die Hausgemeinschaft zu teilen“.

Die Schülerin Ulrike S. fragt: „Gab es die Kristallnacht auch in anderen Ländern als in Deutschland?“

Nein, gab es nicht, deshalb ist es ja auch so wichtig, dass wir eine Erinnerungskultur schaffen, die nicht auf Schuld aufbaut, sondern auf Aufklärung. „WIR WAREN NACHBARN“ ist so ein Ort, an dem auch die Geschichte vor dem Nationalsozialismus erzählt wird. Wie war das Zusammenleben bevor die Nazis an die Macht kamen? Und was änderte sich nach den Novemberpogromen?

Hellmut Stern, Musiker und Geiger schreibt im Gedenkalbum, das in der Ausstellung ausliegt: „Ich spazierte also um halb acht den Südwestkorso entlang und überquerte die Kaiserallee. An der Ecke Varziner Straße war ein Musikalienladen. Er war völlig demoliert: Scherben auf der Straße, Noten, eine Klarinette, zertrümmerte Geigen, ein Klavier, das offenbar aus dem Obergeschoss heruntergeworfen war. Ich näherte mich meiner Schule und sah den Feuerschein auf der Kuppel der Synagoge. Meine Lehrer standen mit den Schülern auf der Straße. Die Feuerwehr war da, griff aber nicht ein. Während wir ratlos und ängstlich dastanden, kam ein Lastwagen mit johlenden Hitlerjungen. Sie beschmissen uns mit Steinen, richtig großen Pflastersteinen.“

Für viele Jüdinnen und Juden war die Pogromnacht ausschlaggebend dafür, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Die Gewalt und Brutalität der Nazis waren überdeutlich geworden.

„Wehret den Anfängen“ (Ovid)

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