„Ich brauche keinen Job, ich brauche eine Aufgabe“

Dagmar Gleim

Bei der KungerKiezInitiative in der Karl-Kunger- u. Kiefholzstraße

Zwischen 9:30 und 10:30 Uhr wirkt der Kunger-Kiez trotz des regen „Hin und Her“ noch ein bisschen unausgeschlafen. Mütter und Väter bringen ihre Kinder zur Schule oder in die Kita, die meisten Cafés haben noch nicht geöffnet, stellvertretend bieten Bäckereien, Imbisse und Spielhallen den gewünschten Kaffee oder das Croissant am Tisch.Grün wirkt das Kernstück des Kiezes, die Karl-Kunger-Straße, überall sind buschige Flecken zu entdecken, nicht großflächig, aber es lässt den Wohlfühlstadtteil erscheinen, als sei er umrahmt von einer grünen Korona.

Schaut man bei der Kiezinitiative in der Kiefholzstraße 20 vorbei, wirkt es von draußen, als hätte auch dort noch kein Wecker geklingelt. Der Eindruck täuscht, ein leises Summen verrät, dass hier schon Betrieb herrscht. Joga- und Kreativkurse, Shiatsu und vieles mehr wird angeboten. Leise und unaufgeregt wird in den Geschäftsräumen gesprochen. Der Besuch bei Michael Schmitz, dem Gründer, Koordinator und Kopf der KungerKiezInitiative e.V., ermöglicht einen Blick auf die ruhige, gelassene Atmosphäre und sagt viel aus, wie dort gearbeitet und miteinander umgegangen wird. Um den Besucher herum wuseln kleine Zweibeiner, die von ihren Müttern für die Krabbelgruppe angemeldet werden. Gleich danach tritt eine junge Frau ein und fragt, ob der Raum für ihre Mediationsarbeit auch wirklich am nächsten Tag genutzt werden kann. Sie kann beruhigt nach Hause gehen, der Raum ist für ihre Veranstaltung schon vorbereitet.

Der Kiez, flächenmäßig betrachtet, erscheint klein, in den Nebenstraßen wirkt die Bebauung nüchterner. Die „Kaufmeile“ ist eher in der Karl-Kunger-Straße angesiedelt. Dort gibt es Vintage-Mode und Schmuck, neben anderen Gewerken, zu entdecken. Auf den ersten Blick tut sich ein kleiner Kontrast auf: Flippig versus spießig, fein restaurierte Altbauten gegen nüchterne Zweckbauten, einfaches Nomadenleben im Bauwagen und eines in den modernen Gebäuden für Mieter und Käufer mit Geld. In den Neubauten gibt es neben Gemeinschaftsflächen auch Sauna und Gästeappartements. Riecht verdächtig nach Aufhübschung durch externe Geldgeber. Latente und explizite Ängste der Anwohner, die Gegend könnte von einer Miet- zur Eigentümergegend werden, bleiben virulent. Die Bauherren bestreiten, diesem Vorschub geleistet zu haben. An der Lohmühlenstraße, direkt am Landwehrkanal, erwartet einen hingegen nichts Buntes, wie man es bei der nahe gelegenen Wagenburg vermuten könnte. Dort trifft man die üblichen Hundehalter auf den Wiesen, vor den langweiligen weißen Bauten der Sechziger- oder Siebzigerjahre.Aber das Gespräch mit Schmitz relativiert diese ersten Eindrücke. Selbst einen kleinen Stadtteil kann man mit einem ersten Blick nicht erfassen. Als Frontmann hat er naturgemäß viel zu berichten, er gewährt einen Blick hinter die Kulissen, um zu demonstrieren, wie heterogen, alle Facetten des Lebens betreffend, es hier zugeht. Sein wichtigstes Motiv für die Arbeit ist der soziale Aspekt, sind die Bewohner. Alle sollen eine Chance haben, teilhaben an der Kultur, den Wohnraum bezahlen können, hier ihren Platz finden.

Ins Leben gerufen wurde die KungerKiezInitiative 2006. Voraus gegangen war der Bau des Einkaufszentrums am Treptower Park, in dessen Folge die klassische Ladenstraße im Kiez wegbrach. „Wir hatten einen Ladenleerstand von bis zu 90 Prozent“, so Schmitz. Der wurde kompensiert mit einer Zwischennutzung der Läden durch Künstler und Studenten, die für die Miete nicht viel Geld aufbringen mussten. Daraus habe sich die erste Bürgerversammlung Gleichgesinnter gebildet. Die Betroffenheit über die Unattraktivität des Kiezes führte zur Gründung der Initiative. Im Zentrum stand die Gemeinwesenentwicklung: eine Art Quartiersmanagement, Kompass für Menschen, die man anlocken möchte? Ja und nein: „Wir haben nie dafür gesorgt, dass Leute hier hinziehen, sondern, dass Menschen hier bleiben. Dazu gehört einfach, das Lebensumfeld attraktiver zu gestalten und soziale Verwerfungen zu harmonisieren.“ Dafür wurden viele günstige Angebote in den Warenkorb gelegt, mit dem Ziel der gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe für alle. Unter anderem gibt es Krabbelgruppen für junge Familien, musikalische Früherziehung zu günstigen Preisen, die Gründung einer Theatergruppe mit drei, vier parallelen Ensembles, deren Vorstellungen höchstens vier Euro Eintritt kosten. Bei allen Angeboten soll die Schwelle, diese wahrzunehmen, möglichst niedrig sein.

Die Nachbarschaftsgalerie in der Karl-Kunger-Straße 15 lässt ihre Gäste kostenfrei die Ausstellungstücke besichtigen. Alle vier Wochen wechseln die Künstler und somit die Artefakte. Schmitz verweist auf den Kungerkiezflyer, in dem für jeden etwas dabei zu sein scheint. Neben Pilates, Malen und Zeichnen wird der Flüchtlingschor aufgeführt, daneben gibt es Kurse für Sprache und Kultur, Sport und esoterische Körperarbeit. Wer den Flyer genauer studiert, stößt auf einen neuralgischen Punkt: Der Verein ist ein rein ehrenamtlicher und muss weitgehend ohne Förderung auskommen. Es wird um Hilfe gebeten, die Räume und Ausstattung pfleglich zu behandeln. Schmitz spinnt die Fäden für die Vernetzung aller Partner, die Hauptarbeit des Vorstands beinhaltet jedoch die finanzielle Abwicklung. „Ich bin ein Gründungsmitglied, habe mir die Arbeit ganz bewusst ausgesucht, weil ich denke, Ehrenamt gehört zum Leben dazu.“ Zum Glück hatte der Kooperationspartner Kulturring mit seinem Ansprechpartner Reno Döring über Jahre hinweg geholfen, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Mitarbeitern, die über das Jobcenter und den zweiten Arbeitsmarkt einen sinnvollen Einsatz bei gemeinsamen Projekten fanden. Mittlerweile helfen Bundesfreiwillige, neben den Ehrenamtlichen. Selbst aus Wilmersdorf kommt eine „Freiwillige“ in den Stadtteil. Schmitz führt mit Nachdruck an: „Einige der Mitstreiter sagen: Ich brauche keinen Job, ich brauche eine Aufgabe!“ Es soll nicht gejammert werden. Trotz der fehlenden Förderung ist und bleibt der Stadtteil ein attraktiver Wohnort. Schmitz nennt ihn ein wunderbares Dorf. Die Mischung macht‘s: Hier lebt noch die alte DDR-Bevölkerung neben den jungen Familien, Studenten, und Künstlern. Und laut Schmitz ist es noch nicht als Spekulationsobjekt missbraucht und gentrifiziert worden. Willkommen in der Villa Kunterbunt!

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