„Europa wird kulturell sein, oder es wird nicht sein“

Reinhardt Gutsche

In den politischen Turbulenzen, Konflikten und Krisen, denen wir seit langem ausgesetzt sind, taucht gelegentlich die Frage auf, wo denn die Stimme der Intellektuellen und Schriftsteller bleibt, die mit ihrer moralischen Autorität Wegweiser in einer Welt sein könnten, deren Zustand von vielen Menschen als zunehmend unverständliches, dschungelhaftes Durcheinander mit gefährlichen Bedrohungen empfunden wird. Seit Zolas berühmtem Appell „J‘accuse“ in der Dreyfus-Affäre spricht man von den „Intellektuellen“, wenn sich Schriftsteller, Wissenschaftler oder Künstler mit ihren spezifischen Mitteln in die politischen Kämpfe einmischen. Brecht postulierte später das „eingreifende Denken“ und Sartre die „engagierte Literatur“. Berühmte Beispiele für ein solches aktives Einmischen sind bekanntlich die antifaschistischen Schriftstellerkongresse zur Verteidigung der Kultur in den 1930er Jahren in Paris, London und New York. Aber auch das Internationale Schriftstellergespräch „Berlin - ein Ort für den Frieden“ 1987, also zu einer Zeit zugespitzter atomarer Bedrohung, gehört in diese Reihe.

Die nun schon zum zweiten Male in Berlin veranstaltete „Europäische Schriftstellerkonferenz“ an diesen berühmten Vorläufern messen zu wollen, wäre in der Tat „vermessen“, sowohl was die existenzielle Brisanz der jeweiligen Anlässe, als auch Renommée und Prominenz der teilnehmenden Autoren anbetrifft. Ging es bei den berühmten Vorläufern noch um nichts weniger als die Frage Krieg oder Frieden, wurden diesmal bescheidenere, aber darum durchaus nicht weniger wichtige Themen verhandelt: Was kann Literatur zur Verständigung über europäische Identitäten und Lebenswelten beitragen? Können die Schriftsteller als Experten im Umgang mit der Sprache die medialisierten politischen Diskurse aufbrechen? Welche Rolle kann die Literatur in dem zunehmend von nationalistischen Fliehkräften bedrohten „Projekt Europa“ spielen? Europa und die Kultur, dies ist ein ebenso dankbares wie unerschöpfliches Thema zahlloser Sonntagsreden, Kongresse, Preisverleihungen usw. Es bewegt sich im ambivalenten Spannungsfeld unterschiedlicher Identitätsbekenntnisse und Wechselbeziehungen zwischen regional-kulturellen, national-kulturellen und europa-kulturellen Prägungen.

Gemeinsam mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte eine Initiativgruppe mit Mely Kiyak, Nicol Ljubić, Tilman Spengler und Antje Rávic Strubel 30 Autorinnen und Autoren aus ganz Europa sowie der Türkei, Syrien, Israel und Tunesien nach Berlin eingeladen, um mit ihnen unter dem Motto „GrenzenNiederSchreiben“ über all diese Fragen zu diskutieren. 2014 fand die erste Europäische Schriftstellerkonferenz mit dem Titel „Europa – Traum und Wirklichkeit“ statt und hatte sich den zerrüttenden Folgen der Wirtschaftskrise und dem damals gerade entbrannten Ukraine-Konflikt gewidmet. Daran anknüpfend, drehte sich diesmal die Debatte um „gemeinsame europäische Werte angesichts von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit“, und es wurden die Möglichkeiten der Literatur abgeschätzt, kulturelle und politische Grenzen zu überwinden. Was ist eigentlich Europa? Wo beginnt es und wo hört es auf? Was hat man sich unter spezifisch „europäischen Werten“ vorzustellen, die es rechtfertigen, eigens von einer besonderen „Wertegemeinschaft“ zu sprechen? Angesichts der Zerreißprobe in Europa wegen der Massenimmigration aus Krisengebieten wurde auch die Frage aufgeworfen, wieviel Zuzug, also gleichsam „Blutzufuhr“, Kultur verträgt oder womöglich gar benötigt. Was passiert, wenn die Muttersprache auf der Flucht zurückgelassen wird? Und können überhaupt Worte und Geschichten dabei helfen, wieder Stabilität in diese turbulenten Zustände zu bringen?

All dies wurde am 9. und 10. Mai in der Akademie der Künste am Pariser Platz in mehreren „Panels“ debattiert und in einer „Langen Nacht der Europäischen Literatur im Deutschen Theater“ mit Lesungen beteiligter Autoren in aller sprachlicher Vielfalt gleichsam literarisch illustriert. Weit davon entfernt, auf all die angerissenen Fragen erschöpfende Antworten bieten zu können, fielen sowohl hier als auch in den Debattenrunden in der AdK die mitunter sehr persönlich und emotional gefärbten Beiträge auf, oft Berichte unterschiedlicher, manchmal leidvoller Erfahrungen, die unbequeme Schriftsteller in ihren Ländern im Umgang mit ihren Regierungen machen müssen. Aber auch davon, wie „Europa“, sei es real erfahren oder erträumt, ihnen hilft, diese Kämpfe mit Würde zu bestehen.

„Ich liebe Mythen...“, meinte Doris Kareva aus Estland. Zu diesen durchaus liebenswerten Mythen gehört trotz aller Widrigkeiten, Rückschläge und politischen Widersprüche immer noch das „Projekt Europa“. Aber dies wird nur ein Europa sein können, das niemanden ausschließt, also allen historischen Quellen gleichrangigen Zufluss zubilligt, aus denen sich der reiche europäische kulturelle Erbestrom speist. Dieser Aspekt blieb auf dieser Konferenz meinem Empfinden nach etwas unterbelichtet, ebenso wie das Verhältnis zu oder gar die Abgrenzung von außereuropäischen Kulturen, eine angesichts gewisser montäglicher Abendspaziergänge sehr aktuelle Frage. Kulturell wäre dieses „Europa der Kulturen“ jedenfalls nicht institutionell verengend auf das EU-Europa zu beschränken. Es müsste, wie es General de Gaulle vorschwebte, ein Europa „vom Atlantik bis zum Ural“ sein, also alle Zimmer des „Gemeinsamen Hauses“ einschließen, wie es nicht nur der Friedensnobelpreisträger Gorbatschow in seinem Buch „Perestroika und neues Denken für unser Land und die ganze Welt“ 1987 gefordert hatte, sondern auch schon Kurt Tucholsky, für den galt: „Europa ist ein großes Haus“.

Jack Lang, der umtriebige, langjährige französische Kulturminister unter Präsident Mitterand, warnte einst: „Europa wird kulturell sein, oder es wird nicht sein“. Diese von vielen aufgegriffene Warnung prangte vor fast zehn Jahren als übergroßes Plakat an der Theaterfassade in Freiburg. Das sollten sich diejenigen unter den Euro-Technokraten hinter die Ohren schreiben, die in dem Projekt Europa wohl nicht viel mehr sehen als eine uniformierte, monokulturelle Freihandelszone zur ökonomischen Wachstumsmaximierung.

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