Wir waren. Wir sind. Wir werden.

Marita Waibel

Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg

Angesichts der Flüchtlingssituation bekommt die Ausstellungsinstallation einen besonders aktuellen Bezug zur Gegenwart. Ein letzter Blick, alles ist bereit, die Türen sind geöffnet, das Licht ist gedimmt, und der Besuchertag in der Ausstellungshalle „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg kann beginnen. Die ersten Besucher lassen nicht lange auf sich warten. Sie waren schon häufiger in der Halle mit dem eindrucksvollen Glasdach und wollen in aller Ruhe weiterlesen, in den biografischen Alben jüdischer Zeitzeugen. Die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ gibt es seit 10 Jahren. Sie lockt Menschen von überall an: Berlin, Mailand, New York, Tel Aviv, Buenos Aires.

Zwei Frauen kommen herein. Ich sehe ihnen an, dass sie unsicher sind und sich nicht auskennen. Ich begrüße sie freundlich und frage, ob ich ihnen etwas zur Ausstellungsinstallation erzählen darf? „Sehr gerne“, antworten sie. „Auf den Lesepulten liegen 152 biografische Alben von jüdischen Bürgern aus dem Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Neben den Biografien (Berichte, private Fotos und Dokumente) von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die damals Kinder oder Jugendliche waren, gibt es auch solche von berühmten Menschen, wie Albert Einstein, Erich Fromm, Helmut Newton, Wilhelm Reich, Coco Schumann, Inge Deutschkron und anderen. Sie alle waren vor 1933 Nachbarn im Bayerischen Viertel. Das ist die konzeptionelle Besonderheit dieser Ausstellung, dass es darum geht, wie sie gelebt haben, wie sie schrittweise aus der Nachbarschaft ausgegrenzt und wie sie und ihre Familien schließlich zu Opfern wurden.“

Ich führe die Besucher an das Gedenkalbum von Mascha Kaléko. An der Seite hängt ein Kopfhörer. „Sie können sich ihre Stimme anhören. Das Schwerpunktthema in diesem Jahr sind die Frauen ‚Wegbereiterinnen – Jüdische Frauen: kritisch, kreativ, engagiert‘,“ erkläre ich den Hinweis (Reiter) auf dem Album. „Schauen Sie sich die Gedenkalben in Ruhe an und lassen Sie sich inspirieren von den Fotos oder der Straße, in der die Menschen gewohnt haben, ihren Berufen, persönlichen Briefen, Dokumenten und Erinnerungen.“Ich zeige auf die Wandinstallation (auf beiden Seiten der Ausstellungshalle über die ganze Länge) und bleibe vor der Ansbacher Straße 34 stehen. „Genau 4.512 Karteikarten reihen sich aneinander, 6.068 Namen jüdischer Bürger, die deportiert wurden, sind handschriftlich notiert. Bereits 1987 hat Andreas Wilcke 200 Stunden im Archiv der Finanzdirektion zugebracht.“ „Warum hat er das gemacht“, fragen die Besucher. „Er war Antifaschist und Mitglied im Bezirksparlament. Er wollte seinen Teil dazu beitragen, damit die Ermordeten nicht namenlos bleiben. Sehen Sie, die Ansbacher Straße 37 ist ein Beispiel für die Infamie des Nazisystems. Zuerst wurden die Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben und in ‚Judenhäuser‘ gepfercht, von wo aus sie ab 1941 in Ghettos in Osteuropa oder direkt in Konzentrationslager deportiert wurden. Als die Kuratorin der Ausstellung Katharina Kaiser Herrn Wilcke bat, die Karteikarten für die Ausstellung ‚Wir waren Nachbarn‘ benutzen zu dürfen, meinte er, dass sie doch nur mit der Hand geschrieben wären! Und genau das wirkt so eindringlich.“

Ich zeige auf den Schrank mit den Schubladen am Ende der Ausstellungshalle. „Dies ist ein weiteres Element der Ausstellungs-Installation, das ‚Archiv der Erinnerungen‘. Es kommen immer wieder Besucher hierher, die sich von der Ausstellung inspirieren lassen, die sich erinnern und bereit sind, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. In den Schubladen finden Sie ihre Texte, Gedankensplitter und Erinnerungen an Orte, Menschen und Ereignisse.“

„Das ist beeindruckend“, sagt die eine Frau. „Und was ist das?“, fragt die andere. „Das sind die Ländertafeln. Auf ihnen finden Sie Informationen zu den unterschiedlichen Bedingungen in den Ländern der Emigration. Schauen Sie sich alles in Ruhe an, und wenn Sie Fragen haben, kommen Sie gerne zu mir“, beende ich die kleine Einführung in die Ausstellung und lasse die Besucherinnen alleine.

Es ist ein seltsames Gefühl, an diesem Ort zu arbeiten. Ich bin motiviert, mache meine Arbeit mit Interesse, Initiative und ja, auch mit Freude. Meine Kollegen sind sympathisch, die Ausstellungshalle ist beeindruckend, das Rathaus Schöneberg hat Geschichte, und wenn ich vor der Eingangstür stehe, denke ich an John F. Kennedy und Willi Brandt.

Eine japanische Frau steuert zielsicher auf mich zu und erzählt mir, dass sie als Journalistin in Schöneberg auf Spurensuche ist, um zu sehen, wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen. „Wir Japaner haben noch nicht einmal damit angefangen“, sagt sie und ist ernsthaft beeindruckt vom kreativen Umgang mit der Aufarbeitung der Geschichte in Berlin Tempelhof-Schöneberg. Und ich frage mich nicht, warum mich das so freut! Ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort!

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