Was bleibt?

Günter Grass (16. Oktober 1927 – 13. April 2015)

"Es waren die letzten Kriegsmonate, ich war 17 Jahre alt, als ich zum Militär eingezogen wurde. Ich kam, wie es damals Tausenden geschah, in eine Division der Waffen-SS. In den wenigen Tagen, an denen ich an der Front war, in einem versprengten Haufen, habe ich Stalinorgelangriffe erlebt. Innerhalb von fünf Minuten war ein Drittel der Siebzehnjährigen, mit denen ich zusammen war, zerfetzt und hing in den Bäumen. Seitdem weiß ich, dass ich zufällig lebe. Wir Menschen neigen dazu, das, was wir geschaffen haben, zu zerstören. Mittlerweile sind wir so erfindungsreich, dass wir alles Leben auf diesem Erdball vernichten können, auf vielfältige Weise. So fehlkonstruiert wir Menschen sind, wir haben aber auch die Gabe, zu reflektieren, über unsere Fehler nachzudenken, Lektionen, die uns die Geschichte erteilt hat – wie mir in sehr jungen Jahren – zu begreifen und daraus Konsequenzen ziehen. Das heißt, von den Rechten des Demokraten Gebrauch zu machen. Den Mund aufmachen, mitreden, nicht schweigend erdulden, nicht zulassen, dass der Bürger zum bloßen Konsumenten verkürzt wird. Das sind die Dinge, die ich versucht habe in meinen Büchern zu erzählen, aber auch in Reden und Essays weiterzureichen. Meine Bücher waren von Anfang an umstritten. Ich habe das Glück gehabt, mit meinem ersten Roman finanziell unabhängig zu werden. Diese Unabhängigkeit habe ich als ein Geschenk empfunden und davon Gebrauch gemacht. Aber wer unabhängig ist, macht sich Feinde. Ich habe das überlebt durch Nicht-Nachlassen. Das ist manchmal anstrengend, das hinterlässt auch Narben. Meine Frau und ich haben zusammen acht Kinder und mittlerweile 18 Enkelkinder, bald werde ich Urgroßvater. Die Gefahr ist heute, so beobachte ich es, dass die Kinder zugedeckt sind mit einer Überfürsorge. Die Eltern sind sehr bedacht, die Kinder haben überhaupt keine Chance mehr sich zu verlaufen. Ich hatte nicht vor, meinen Kindern übermäßig viel zu vererben. Ich wollte sie nicht unglücklich machen mit nicht-verdientem Geld. So habe ich eine Reihe von Stiftungen errichtet, die auch mit meiner Tätigkeit zu tun haben. Zum Beispiel fördern wir junge Literaten, polnische Grafiker und Menschen, die sich um das Volk der Sinti und Roma – die größte misshandelte Minderheit in Europa – verdient gemacht haben. Zeichnen, Schreiben und Dinge formen – all jene Talente, die ich wohl von meiner Mutter mitbekommen habe, habe ich mein Leben lang benutzt. Zeichnungen, Lithographien, Radierungen, Aquarelle und Skulpturen sind daraus entstanden und zahllose Bücher. Natürlich frage ich mich: Was bleibt von all dem in einer Zeit, in der die nachwachsende Generation durch allerlei technischen Krimskrams vom Lesen abgelenkt wird? Gibt es noch Leser? Gibt es noch Menschen, die neugierig sind, sich mit einem Buch allein zu befinden und es sich durch Arbeit zu erschließen? Denn Lesen ist Arbeit. Man wird nicht bedient, man muss ein abstraktes Schriftbild imaginieren. Ich habe das immer als einen wunderbaren, durch nichts zu ersetzenden Vorgang begriffen. Aber die Zahl derer, die dafür die Konzentration, die Ruhe, die Muße aufbringen, hat sich verringert. Davon hängt ab, ob das, was ich und viele andere Schriftsteller geschaffen haben, bleibt. Ohne Leser ist das Buch ein lebloser Gegenstand, in Regale gestapelt und gereiht. Wenn es mir gelungen ist, zwei, drei Bücher geschrieben zu haben, die auch in späteren Zeiten in die Hand genommen werden, dann ist das schon was."

Am 13. April jährte sich der Todestag von Literaturnobelpreisträger Günter Grass zum ersten Mal.

Die Initiative „Mein Erbe tut Gutes“ hatte zu Lebzeiten von Günter Grass die Ehre, ihn zur Frage „Was bleibt?“ porträtieren zu dürfen. Die Fotografin Bettina Flitner erschuf daraus ein berührendes Triptychon. Entstanden ist außerdem ein intensiver Kurzfilm zu dem Gespräch mit Günter Grass. Wir danken der Initiative „Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum“ für die Möglichkeit der Veröffentlichung dieses Beitrags.

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