Wozu denn über diese Leute einen Film?

Nele Saß

Ein Thomas-Heise-Filmabend im Studio Bildende Kunst

Für seinen ersten, noch an der Hochschule entstandenen Dokumentarfilm „Wozu denn über diese Leute einen Film?“, der über Ostern 1980 in Prenzlauer Berg gedreht wurde, wählte einer der profiliertesten deutschen Dokumentarfilmer, der Regisseur Thomas Heise, die zeitweisen kleinkriminellen Karrieren zweier Brüder zum Thema. Die im Stil der (Arbeiter-)Filme des „free cinema“ gehaltene Milieustudie beginnt mit einem langen Schwenk über die Dächer des damaligen Prenzlauer Bergs und wendet sich dann den beiden Brüdern und ihrer Mutter im direkten Gespräch zu. Ausgangspunkt der Bekanntschaft ist ein Motorraddiebstahl, dem der Bestohlene lieber individuell auf den Grund gehen will. Es folgen weitere gemeinsame Szenen an anderen Orten. Ein Glossar auf der Homepage des Regisseurs erläutert die im Film zu hörenden Ausdrücke wie „Piepel“ -Berliner Slang: männlicher Jugendlicher-, „Inspektion“ -umgangssprachlich verkürzt für Volkspolizeiinspektion in der Keibelstraße am Alexanderplatz-, „urste Maulschelle“ etc. Der überraschend nüchterne Blick auf zwei „normale“ Biographien erzählt mit seiner konkreten Verortung nebenbei auch ein Stück Musikgeschichte der DDR.

Ebenso unideologisch beobachtet der einige Jahre später und in anderem Kontext entstandene Dokumentarfilm „Das Haus“ die eigene Gesellschaft: Im Berolina-Haus am Alexanderplatz, damals Sitz der Abteilungen Soziales, Wohnungspolitik und Inneres des Stadtbezirkes Mitte „dokumentierten“ Thomas Heise und sein Kameramann Peter Badel die Angestellten wie Bittsteller der verschiedenen Abteilungen. Der Film entstand im Auftrag der SFD, der Staatlichen Filmdokumentation, einer Institution, die zwischen 1970 und 1986 für imaginierte zukünftige Betrachter unzensiertes Rohmaterial aus dem gesamten Leben der DDR zur späteren Verwendung erstellte. Es ging im Kern darum, einem bereits im Kommunismus lebenden Zuschauer das Geschehen der noch im Übergang befindlichen Gesellschaft zu erklären. Thomas Heises Film über das Berolina-Haus, einer von zwei Filmen, die er für die SFD erstellte, nimmt sich dieses Auftrags etwas anders an. Er wurde ebenfalls konserviert und ist heute vermutlich die einzige vorhandene Dokumentation über Verwaltungsalltag in der DDR. Indem sich der Film in langen Einstellungen zeitlich durch eine Arbeitswoche und räumlich durch das Haus bewegt – in der ersten Szene wird noch ein leerer Alexanderplatz am „Wahlsonntag“ gezeigt – werden die Menschen vor wie hinter den Tischen in gleicher Weise zum Thema. Der starke atmosphärische Eindruck des Films weist über den dargestellten historischen Zusammenhang deutlich hinaus.Thomas Heise wurde 1955 in Berlin (DDR) geboren, und studierte nach dem Wehrdienst und einer Facharbeiterausbildung als Tiefdrucker von 1978-1982 an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg. Hier entstanden einige Dokumentarfilme (u.a. „Imbiß“, 1978). Nach seiner Exmatrikulation infolge der operativen Bearbeitung durch das MfS (1976-1988) realisierte Heise neben seinen beiden Dokumentationen für die SFD („Das Haus“, 1984, und „Volkspolizei“,1985) mehrere Radio-Ton-Features (Alltagscollagen) und wurde 1987 Meisterschüler der Akademie der Künste bei Gerhard Scheumann (Abschluss 1990 mit dem Kurzfilm „Imbiß Spezial“). Von 1990-1997 ist er Mitarbeiter von Fritz Marquardt am Berliner Ensemble. Seine ersten Langfilme „Eisenzeit“ (1991) und vor allem „STAU-Jetzt geht’s los“ (1992) lösten durch ihre Herangehensweise viele Diskussionen aus. In „STAU-Jetzt geht’s los“ beobachtet Heise unvoreingenommen Neo-Nazis in Halle-Neustadt. Auch in vielen der folgenden Filme widmet sich Thomas Heise den gesellschaftlichen Entwicklungen im wiedervereinigten Deutschland. Die komplexen Perspektiven seiner Filme machen ihn zu einem der bedeutendsten Dokumentarfilmer der Gegenwart. 2007 tritt Thomas Heise eine Professur für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe an und ist seit 2013 Professor für Kunst und Film an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Sein bislang letzter Film „Städtebewohner“ (2014) erzählt vom Alltag junger Männer in einem Gefängnis in Mexiko-Stadt.

Die Filmreihe im Studio Bildende Kunst soll sich künftig weiteren Bildern von Menschen in lokalen und historischen Zusammenhängen annehmen und dabei vornehmlich am Bezirk Lichtenberg orientieren.

Studio Bildende Kunst

14.04.2016, 19.30 Uhr, Eintritt: 3,50 €

Wozu denn über diese Leute einen Film? (DDR 1980, 32 min, s/w, Dokumentarfilm); Regie/Buch: Thomas Heise, Kamera: Dagmar Mundt, Schnitt: Beate Sell, Musik: Stefan Carow, Produktion: Hochschule für Film und Fernsehen, Babelsberg; (Publizistische Filmübung 2. Studienjahr, für Vorführungen gesperrt bis September 1989); Rechte: Thomas Heise/Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf; Premiere: 20.9.1989, Akademie der Künste Berlin/DDR

Das Haus (DDR 1984, 56 min, s/w); Regie/Buch/Ton: Thomas Heise, Kamera: Peter Badel, Schnitt: Gisela Tammert, Produktion: Staatliche Filmdokumentation beim Staatlichen Filmarchiv der DDR, Berlin; (nicht zur Vorführung vorgesehen); Rechte: Thomas Heise/Bundesarchiv-Filmarchiv; Premiere: 21.11.2001, Filmkunsthaus Babylon, Berlin

Archiv