Mit offenem Auge / Projekt Gedenktafeln und Mahnmale in Tempelhof-Schöneberg

Nachdem das Kulturring-Projekt „Kunst im öffentlichen Raum Tempelhof-Schöneberg“ soviel Anklang erfuhr – wir berichteten über die Anfragen und Kooperationen – hoben wir mit Unterstützung des Bezirksamtes und Jobcenters ein Anschlussprojekt aus der Taufe, das die vielen Gedenktafeln und Mahnmale im Bezirk Tempelhof-Schöneberg aktuell erfasst und katalogisiert.

Im November 2018 starteten also drei engagierte MitarbeiterInnen, die im Rahmen des zum Ende 2018 bundesweit auslaufenden FAV Programmes (Förderung von Arbeitsverhältnissen) tätig sind, mit einer weiteren spannenden Mammutaufgabe. Doch wo beginnen? Jolanta Kornas, Daniel Dos Santos und Ali Tekin stellten sich nur kurz diese Frage und nahmen als erstes einen großen Leuchtkasten im Rathaus Schöneberg in den Blick, der mehr als 90 Gedenktafeln und -Orte auf Dias vorstellt. Einige der darauf abgebildeten Gedenktafeln wurden entwendet, wie sich später herausstellte, zum Beispiel die für Uwe Johnson in der Niedstraße, andere befinden sich in einem schlechten Zustand. Unsere neue Gesamterhebung, die die Gedenktafeln und -orte fotografisch dokumentiert und ihren Zustand beschreibt, kann zukünftig verschiedenen Stellen dabei helfen, den Überblick, der teilweise verloren ging, wiederzuerlangen. Außerdem gewinnt der Kulturring wertvolles Material, das für zukünftige Projekte, wie ausgesuchte Kiezspaziergänge durch Berlin und dessen reiche Geschichte, Verwendung finden kann. Wie auch beim Projekt „Kunst im öffentlichen Raum“ zuvor, machten Frau Kornas und das Team die Erfahrung, dass man die Stadt plötzlich mit ganz anderen Augen sieht: „Früher ging ich durch die Straßen, ohne die Gedenktafeln zu sehen. Jetzt springen sie mir ins Auge, und ich staune über die vielen berühmten Leute, die früher in Schöneberg gewohnt haben. Die Stadt sieht jetzt irgendwie anders aus.“
Zu den vielen interessanten Entdeckungen gehört zum Beispiel die Gedenktafel in der Stubenrauchstraße 47, die daran erinnert, dass hier in der Mansardenwohnung des jüdischen Sängers Harry Frommermann Ende Dezember 1927 die „Comedian Harmonists“ gegründet wurden. Er war gerade einmal 21 Jahre alt und hatte per Zeitungsannonce Sänger für ein Vokalensemble gesucht. Zuerst probte man in der kleinen Dachwohnung, später stellte die Schauspielerin Asta Nielsen ihre Wohnung in der Kaiserallee (seit 1950: Bundesallee) für die Proben zur Verfügung. Die „Comedian Harmonists“ wurden weltberühmt, und ihre Konzerte waren regelmäßig ausverkauft. Ab 1933 gab es für die „Harmonists“, die inzwischen hohe Gagen erwirtschafteten, die sie laut Gründungsvertrag auf alle sechs Musiker gerecht aufteilten, erste Auftrittsverbote durch die Nazis. Später wurde auch der Schallplattenverkauf verboten. Die drei jüdischen „Harmonists“ flohen vor der Naziverfolgung ins Ausland, und das war dann auch der Anfang vom Ende der „Comedian Harmonists“. Die Gedenktafel wurde 1990 am Wohnhaus in der Stubenrauchstraße angebracht, und im Haus organisiert eine Mieterin jährlich Konzerte in Erinnerung an die legendäre Gesangsformation. Die Geschichte der „Comedian Harmonists“ wurde 1997 von Joseph Vilsmaier für das Kino verfilmt.

In Friedenau lebten aber noch einige andere Berühmtheiten, darunter Rosa Luxemburg. Sie wohnte von 1902 bis 1911 in der Cranachstraße 58. In dem gutbürgerlichen, ruhigen Viertel konnte sie sich besser auf ihre publizistische und politische Arbeit konzentrieren. Heute erinnert ein Bronzedenkmal vor dem Haus an die kommunistische Revolutionärin, die vor genau 100 Jahren im Januar 1919 von Freikorps-Offizieren unter dem Befehl Waldemar Papsts und nach seiner Aussage mit Billigung des SPD-Politikers Gustav Noske gefoltert und ermordet wurde. Das gleiche Schicksal ereilte an diesem Tag einen weiteren KPD-Führer: Karl Liebknecht. Die Mörder wurden nie verurteilt. 1988 wurde das Denkmal für Rosa Luxemburg in einem Beet vor dem Wohnhaus in der Cranachstraße aufgestellt. Leider sieht es zurzeit ungepflegt aus und ist durch Vogelmist verunstaltet. Rosa Luxemburg wohnte übrigens auch schon früher in Friedenau, von 1899 bis 1902 in der Wielandstraße 23. Dort erinnert eine kleine Bronzetafel an die berühmte Mieterin.

Unter den schon jetzt über neunzig Objekten, die das Team zur Zeit in eine Datenbank einpflegt und mit Hintergrunddaten ergänzt, befinden sich auch Denkmale, die im Alltag der Großstadt kaum auffallen. Wie oft ist man schon über die große Kreuzung Martin-Luther-Straße und Kleiststraße an der Urania gegangen, ohne das Mahnmal zu sehen, das auf der südlich gelegenen Mittelinsel auf dem Rasen zwischen den Eiben steht. In den Neunzigerjahren wurde dort eine große Rote Schleife (Red Ribbon) aus Metall aufgestellt, die an die vielen AIDS-Toten erinnern soll. Im Jahr 2010 wurde dieses Denkmal umgestaltet und erweitert. Die „Internationale Stele gegen das Vergessen“ besteht nun aus einem schwarzen Stein, der die Rote Schleife aus Metall und eine Inschrift trägt, sowie einer Steinplatte mit Inschriften am Boden davor. Das Denkmal ist der Erinnerung an all die AIDS-Toten, die der HIV-Virus in den Achtziger- und bis in die Neunzigerjahre hinein forderte, gewidmet. Ab und zu legen Touristen einen weißen Kieselstein auf die Platte, um eines verlorenen Freundes oder Verwandten zu gedenken. Auf der Platte steht unter anderem: „Stirbt ein Elternteil, so stirbt die Vergangenheit, stirbt ein Partner, so stirbt die Gegenwart, stirbt ein Kind, so stirbt die Zukunft.“ Ein Verein pflegt das Mahnmal und dessen Umfeld im Auftrag des Landes Berlin, und man möchte hinzufügen, dass die Pflege von Gedenktafeln und Mahnmalen eine ganz wichtige Aufgabe der Gesellschaft ist: denn stirbt die Erinnerung, steht es schlecht um Gegenwart und Zukunft. Allein diese drei Beispiele geben einen Eindruck von der Erinnerungskultur, die – oft unbeachtet – überall in unserer großen Stadt lebendig ist  . . .  sobald man sein Auge öffnet.

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