Erinnerungen an den 1. September 1939

Dr. Gerhard Schewe

Ich war gerade neun geworden. Wie ­immer verbrachten wir die Sommerferien in der pommerschen Heimat meines ­Vaters. Und wie immer drehte sich in diesen Wochen alles um die Ernte. Und doch war es diesmal irgendwie anders: eine gewisse Besorg­nis lag in der Luft, Gerüchte machten die Runde. Geht es los mit Polen? Dass es Anzeichen hierfür gab, wusste man auch in den Dörfern. Und die Grenze lag keine 50 Kilometer entfernt.

An den Tag, an dem es dann tatsächlich los ging – „Seit 5.45 Uhr wird jetzt ­zurückgeschossen!“ – erinnere ich mich nicht mehr, dafür aber an das ganze Drumherum: Einquartierung, Lebensmittelkarten, Verdunklung, Luftschutz … Für uns Kinder ein spannendes Abenteuer, für unsere Eltern, die den Ersten Weltkrieg noch erlebt hatten, vielleicht ein Menetekel? Dass dieser Spätsommertag, dieser zunächst nur lokale Konflikt, allerdings eine derartige Katastrophe auslösen würde, überstieg damals noch jedes Vorstellungsvermögen. Um so erstaunlicher ist es, dass der 1. September 1939 in unserer Erinnerungskultur kaum noch wahrgenommen wird.

Persönlich habe ich zu diesem Tag insofern ein besonderes Verhältnis, als ich ihn gleich mehrfach erlebte. Das erste Mal, wie erwähnt, live. Das zweite Mal Jahrzehnte später, aber an historischem Ort: auf der Westerplatte. Es war dies ein Militärstützpunkt, den Polen gemäß dem Versailler Vertrag im Hafengelände der seinerzeit vom Völkerbund verwalteten Freien Stadt Danzig unterhielt. Und genau hier hatte der offiziell zu einem Freundschaftsbesuch eingetroffene deutsche Panzerkreuzer Schleswig-­Holstein mit dem „Zurückschießen“ begonnen. Beton­graue ­Ruinen zeugen noch heute davon, Schautafeln und ein Denkmal erinnern an die Ereignisse. Wir standen lange Zeit stumm davor, im Widerstreit der ­Gefühle. Musste es so kommen? War es Schicksal oder das fatale Resultat machtpolitischer Interessenkonflikte? Und was wäre geschehen, wenn es diesen Tag nicht gegeben hätte?
Gedenken hat immer auch etwas mit Nachdenken zu tun.

Meine dritte Begegnung mit dem Tag des Kriegsbeginns geschah eher zufällig: ein friedlicher Urlaubstag auf Rügen. Der Weg zum Jagdschloss Granitz führte uns an einem kleinen Waldfriedhof vorbei. Gleich am Eingang fiel der Blick auf einen schon leicht verwitterten Grabstein: Gefreiter Sowieso, gefallen am 1. September 1939. Ungläubiges Nähertreten, Schweigen. Natürlich wusste man, dass in diesem Krieg Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten, aber dieser eine hier, vielleicht der allererste, mit Namen, Alter, Heimatort aus der Anonymität hervortretend, dieser Junge von der Insel, warum gerade der? Der Schock saß tief.

Möge sein Grabstein erhalten geblieben sein zur bleibenden Mahnung und Erinnerung für die Vorbeikommenden. Es ist schon zu viel vergessen worden, auch dass der 1. September einmal als Weltfriedenstag im Kalender verzeichnet stand.

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