Erinnerung und Spurensuche in Reinickendorf

Bernhard Pelzl

Die Arbeit am Projekt begann im November 2012. Zunächst galt es, Teams zu bilden und deren jeweils zu bearbeitende Gebiete festzulegen. Um einen Überblick zu erhalten, wurden die online vorhandenen Gedenkenzeichenlisten zu Rate gezogen, in denen in erster Linie Stolpersteine, Denk- und Mahnmale, an Persönlichkeiten und Ereignisse erinnernde Tafeln und Steine (meist als Findlinge, aber auch als behauene, polierte Stelen) sowie Kriegsgräberfelder auf den Friedhöfen (überwiegend mit – wenn auch nicht immer identifizierten – Zivilopfern der Bombenangriffe auf Berlin) erfasst sind. Ergänzend sollten die Ehrengräber des Berliner Senats, evtl. die noch auffindbaren Grabstätten von Personen des Widerstands gegen die NS-Diktatur (die nicht unbedingt organisierten Gruppen angehörten) sowie des öffentlichen Lebens hinzugefügt werden. Besprochen wurde ferner, welche Informationen über die einzelnen Objekte ermittelt bzw. verbindlich in die zugehörigen Textdateien aufzunehmen seien: der Ort, evtl. die genaue Lage, die Erreichbarkeit durch öffentliche Verkehrsmittel und, sofern erforderlich, eine Beschreibung des sich anschließenden Fußweges, die benötigte Zeit oder die Entfernung, wenn vorhanden, der Wortlaut der Inschrift, ggf. eine Beschreibung des Objekts, der Erhaltungszustand, die Anzahl der Lichtbilder und der Fotograf; wenn an eine oder mehrere Personen erinnert wird, Angaben über Leben und Schicksal, die benutzten, online oder als Druckerzeugnis vorliegenden Quellen. Wichtig war ein Hinweis zur öffentlichen Zugänglichkeit. Zum Beispiel sind die beiden Gedenktafeln in der JVA Tegel nur nach Anmeldung für Gäste erreichbar. In diesem Zusammenhang erwähnt seien auch die an den Werktagen in der Regel verschlossenen Kirchen und die Insel Scharfenberg, da der Fährmann Anweisung hat, nur avisierte Besucher überzusetzen.

Nebenher wurden Beiträge vertiefenden Inhalts verfasst: etwa zur Geschichte der Psychiatrie unter Berücksichtigung der Euthanasie in den Wittenauer Heilstätten (ab 1957: Karl-Bonhoeffer-Nerven- Klinik; seit 2006 geschlossen). Eine Herausforderung war die Beschäftigung mit dem ehemaligen anstaltseigenen Friedhof, auf dem während der NS-Zeit zahlreiche psychiatrische Euthanasie-Opfer verscharrt worden waren. Vor einigen Jahren wurde deshalb die Forderung laut, das verwilderte Areal in eine Gedenk- und Erinnerungsstätte umzuwandeln, obwohl einzig Teile der Mauer, einige Brunnen, aber augenscheinlich keine Gräber (!) als Reste erhalten geblieben sind. Auch die „Heimatschau Reinickendorf“, die Vorgängerin des 1980 eröffneten Heimatmuseums in Hermsdorf, war einen gesonderten Artikel wert; diese war von 1959 bis 1979 im Haus Alt-Wittenau 66 (heute: Eichborndamm 242) untergebracht, das wiederum in Beziehung zu den Wittenauer Heilstätten steht, da an bzw. von dieser Stelle aus bis 1956 das klinikeigene Gut unter Einbeziehung von leichter erkrankten, beaufsichtigten und angeleiteten Patienten bewirtschaftet wurde.Einen besonderen Schwerpunkt der Arbeit bildeten die Stolpersteine. Allgemein gibt es drei durch diese geehrte Opfer-Gruppen der Nazi-Herrschaft: diejenige der „Euthanasie“, die jüdischen Opfer sowie die des Widerstands. Schwierigkeiten ergaben sich bei der Beschaffung von Daten über das Leben der betroffenen Menschen. Die Krankenakten der Wittenauer Heilstätten bzw. der Klinik Obrawalde (östlich der Oder, heute in Polen gelegen) über die durch Euthanasie umgebrachten Erwachsenen befinden sich mittlerweile im Landesarchiv am Eichborndamm und dürfen aus Datenschutzgründen nicht (mehr) eingesehen werden. Somit existieren online nur die relativ wenigen, vor Jahren von verschiedenen Autoren erstellten Biographien. Weitere Quellen sind nicht vorhanden. In Obrawalde brachten Mitglieder des dortigen Personals geistig behinderte Menschen mittels einer Überdosis von Medikamenten um. Über die jüdischen Opfer ist ebenfalls oft nichts in Erfahrung zu bringen. Bedeutend besser sieht es dagegen mit den dem Widerstand zuzurechnenden Personen aus. Als womöglich noch berührender erwies sich die Kindereuthanasie. Die betroffenen Kinder waren in der ehemaligen Klinik Wiesengrund, Eichborndamm 238 und 240, untergebracht. Sie wurden dort für riskante medizinische Experimente missbraucht, an deren Folgen viele qualvoll starben. Die zur Straße orientierte Schmalseite des Hauses 238 weist eine Gedenktafel mit Erläuterungen auf. Und vor den beiden Eingängen zu den Grundstücken sind inzwischen 7 Stolpersteine verlegt worden. Die letzte Verlegung, für Paul Höhlmann, fand am 7. Juni 2013 statt. Es handelte sich zugleich um den 5000. Stolperstein in Berlin, der Anlass für eine feierliche Zeremonie mit zwei kurzen Ansprachen sowie einer musikalischen Darbietung Jugendlicher bot.

Nach vorheriger telefonischer Terminvereinbarung besuchten Interessierte die Stolperstein-Werkstatt in Buchholz und ließen sich vom Hersteller, Herrn Friedländer, seine Vorgehensweise bei der Anfertigung erklären. Herr Friedländer hat mittlerweile mehr als 42.000 der über 50.000 im In- und Ausland vorhandenen Stolpersteine geschaffen. Diese Tätigkeit füllt schon lange seine gesamte Zeit aus. Die letzte Stolperstein-Verlegeaktion in Reinickendorf fand in diesem Jahr am 25. März vor den einstigen Borsigwerken in Tegel, Berliner Straße 26, für 13 in diesem Industriebetrieb aktive Mitglieder der Widerstandsgruppe Mannhart statt. Die Suche nach den Lebensdaten dieser Männer dauert zur Zeit noch an.

Zwei später zum Team hinzu gekommene Mitarbeiter haben sich spezieller Themen angenommen: zum einen der ehemaligen ca. 140 Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager im Bezirk, die - bis auf die wenigen noch vorhandenen Gebäude am Krumpuhler Weg in Tegel-Süd - wohl nicht, auch nicht teilweise, erhalten geblieben sind und für die es an den früheren Standorten bislang keinerlei Hinweise, etwa in Form von Tafeln, gibt. Ein weiterer Mitarbeiter widmet seine Zeit der „Polen-Aktion“, indem er in mühevoller, zeitraubender Kleinarbeit versucht, etwas über das Schicksal der von dieser Maßnahme betroffenen Menschen herauszufinden. Ende Oktober 1938 wurden bis zu 17.000 polnische Juden über die Grenze des Deutschen Reichs in ihre einstige Heimat abgeschoben.

All dies sind Themen, die sich mit der Geschichte in einem Berliner Bezirk befassen, die aber deutlich machen, dass Schicksale von Menschen aus der damaligen Zeit uns nach wie vor berühren und mahnen, dafür zu sorgen, dass Unrecht und Verbrechen, dass Hass, Intoleranz, aber auch Opportunismus und Gleichgültigkeit nie wieder die Oberhand gewinnen.

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