Nachbar Polen

Karl Forster

Mit 65 Jahren gehen viele Menschen in den Ruhestand. Nicht so Organisationen mit gesellschaftlichen Aufgaben. Da ist dieses Alter aber ein Anlass, das Erreichte zu feiern und über weitere Aufgaben nachzudenken. So ging es auch bei der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V., die im Kulturforum Hellersdorf zu einer Matinee-Veranstaltung anlässlich ihres 65jährigen Bestehens einlud. Dabei hätte das Jubiläum auch schon vor zwei Jahren gefeiert werden können. Denn 1948 wurde in Berlin die „Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft“ gegründet. Von Gerlach, Sohn eines Gutsbesitzers und Enkel eines früheren Polizeipräsidenten von Berlin, war Publizist und Politiker. Zunächst stand er dem christlich-sozialen, antisemitischen Flügel der Konservativen um Adolf Stoecker nahe. Unter dem Einfluss Friedrich Naumanns entwickelte Gerlach bald eine liberale politische Haltung, war Chefredakteur der Berliner Wochenzeitung Die Welt am Montag. Im Ersten Weltkrieg nahm Gerlach eine pazifistische Haltung ein. 1918 gehörte er mit Friedrich Naumann zu den Gründern der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der Deutschen Friedensgesellschaft. 1918/1919 war Gerlach Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium. In diesem Amt setzte er sich für die deutsch-polnische Aussöhnung ein und war infolgedessen heftigen Anfeindungen ausgesetzt. 1926 wurde er Vorsitzender der Deutschen Liga für Menschenrechte. Für den inhaftierten Carl von Ossietzky übernahm er 1932 die politische Leitung der Zeitschrift Die Weltbühne. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1933 ging Gerlach ins Exil nach Österreich.

Nach ihm also wurde die Gesellschaft 1948 Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft genannt. Der Gründungsvorsitzende war Johannes Franz Stroux, Präsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und Vizepräsident des Kulturbundes. Schon die ersten Veranstaltungen der Gesellschaft waren gemeinsame Projekte mit dem Kulturbund.

Der Gründung zweier deutscher Staaten 1949 folgte im Jahr darauf folgerichtig die Neugründung der Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft für die neue BRD. Hier wurde ihre Arbeit auf vielfältige Weise erschwert. In beiden Staaten musste die Gesellschaft auf Betreiben der Familie von Gerlach ihren Namen ändern, und schon 1953 wurde die Gesellschaft in der DDR durch Umgründung quasi aufgelöst. Deshalb wurde jetzt nur das Jubiläum der fortexistierenden westdeutschen Organisation gefeiert.Und noch etwas gab es zu feiern: Im Frühjahr 1990 entstand in der Noch-DDR wieder eine deutsch-polnische Gesellschaft unter dem so schön programmatischen Namen „Gesellschaft für gute Nachbarschaft zu Polen“, nach dem Zusammenschluss Ende 1992 heute die Regionalgruppe Berlin der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD.

Die Jubiläumsveranstaltung am 5. Juli wurde von einem außergewöhnlichen Musikprogramm umrahmt. Neben dem Bajan-Spieler Valerie Ignatenko und dem Pianisten Wladyslaw Chimichewski gab der zur Zeit in Berlin lebende polnische Konzertgitarrist Jerzy Chwastyk, Preisträger vieler internationaler Wettbewerbe, ein Konzert, bei dem er sich unter anderem der Musik Hans Werner Henzes, des Namensträgers der Musikschule Marzahn-Hellersdorf, widmete.

Bei den bei einem solchen Jubiläum unvermeidlichen Reden sprach Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, über die Notwendigkeit der Arbeit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und berichtete über die Schwierigkeiten in den 1970er und 80er Jahren in der Bundesrepublik, sich für Verständigung mit Polen einzusetzen. Doch auch andere Vertreter des öffentlichen Lebens würdigten die Arbeit der 65jährigen Organisation. So der Gesandte der Botschaft der Republik Polen, Janusz Styczek, die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, Marzahn-Hellersdorfs Kulturstadträtin Juliane Witt, der Vorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Dr. Axel Holz. Als Vertreter der Partnerorganisationen konnte Frank Kupferschmidt von der Deutsch-polnischen Gesellschaft Brandenburg begrüßt werden und aus dem Südosten Polens kam Dr. Wojciech Furman, viele Jahre Vorsitzender der dortigen Polnisch-deutschen Gesellschaft und schon Ende der 1990er Jahre mehrfach Gast bei Veranstaltungen im Kulturforum Hellersdorf. Grüße des Vorsitzenden des Kulturring in Berlin e.V. als Landesverband des schon bei der Gründung bedeutenden Partners Kulturbund überbrachte Vorstandsmitglied Siegfried Lewerenz, der eindrucksvoll berichten konnte, dass der Kulturring auch heute in deutsch-polnischen Projekten aktiv ist.

Die Auswahl des Kulturforums Hellersdorf für die gemeinsame Veranstaltung war übrigens kein Zufall. Schon Mitte der 1990er Jahre startete hier mit der Reihe „Nachbar Polen“ die Nachwende-Zusammenarbeit von Kulturring und Deutsch-polnischer Gesellschaft, die seither in vielfältiger Weise Früchte trug.

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