So gesehen...

Reinhardt Gutsche

Mit seiner neuesten Ausstellung „So gesehen – Arbeiten von Tatiana Burghenn-Arsénie, Anne Marei Lepinski“ gewährt das Studio Bildende Kunst in der Lichtenberger John-Sieg-Straße einen Werkstattblick. Seit drei Jahrzehnten ist die ehrwürdige art deco-Villa Skupin nicht nur eine beliebte Ausstellungs-Location, sondern auch Standort für vielfältige Kursangebote. Seit nun bereits fast einem Vierteljahrhundert (und seit mehr als zehn Jahren unter der Obhut des Kulturrings in Berlin) leitet der Berliner Maler und Grafiker Stefan Friedemann in diesem Haus Kurse für Radierung, gestalterische Grundlagen und zeichnerisches Naturstudium. In seinem Aktkurs entstanden auch die Arbeiten von Tatiana Burghenn-Arsénie und Anne Marei Lepinski. Er hatte ihnen geraten, sie doch mal aus ihren Mappen hervorzuholen und der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Ist das Objekt ihrer künstlerischen Begierde auch dasselbe, nämlich die menschliche Figur in Gestalt des Aktmodells, so haben wir es doch mit deutlich voneinander unterschiedenen Ergebnissen zu tun: Wenn es bei der Aktmalerei darum gehen sollte, die menschliche Figur auf ihr Wesen zu reduzieren, so erweist sich beim konfrontativ-vergleichenden Blick der beiden Künstlerinnen, wie subjektiv unterschiedlich das „Wesen“ aufgefasst werden kann. Welche Ursachen diese Unterschiede auch haben mögen, sei es die Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen, unterschiedliche biografische Impulse und Prägungen oder natürlich auch unterschiedliche künstlerische Temperamente usw., mit jedem Bild dürfen sie mit vollem Recht den Anspruch darauf erheben, auf spezifische Weise „das Wesen“ des Dargestellten erfasst zu haben, nämlich das „Wesen“, wie es sich gerade in dem jeweiligen Schaffensmoment dem Künstler entäußert hat und zur individuellen Darstellung drängte. So gesehen, verliert der Begriff des „Wesens“ jede transsubjektive, gleichsam göttliche Dimension: Gott sei Dank, wenn in diesem Zusammenhang das paradox erscheinende Wort erlaubt sei, denn sonst wäre alle Kunst ein langweiliger Einheitsbrei. Es ist ja gerade das Besondere, Einmalige, Unverwechselbare, was an einem Kunstwerk fasziniert. So gesehen, liegt dessen „Wesen“ nicht im Objekt des Geschaffenen sondern im Subjekt seines Schöpfers. Das erinnert an eine berühmte Sentenz des französischen Philosophen Roger Garaudy aus seinem Essay „Über einen Realismus ohne Ufer“: Danach sei das Wichtigste an dem Apfel-Stilleben von Cézanne nicht die Präsenz der Äpfel, sondern die Präsenz von Cézanne.

So gesehen, wird dem Betrachter die unterschiedliche „Wesensschau“ der beiden Künstlerinnen kaum entgehen. Bei Tatiana Burghenn sticht das eher Flächig-Malerische hervor, bei Anne Lepinski das eher Zeichnerisch-Linienhafte. Tatiana neigt dazu, von der konkreten Figur zu abstrahieren. Sie lässt sie buchstäblich gesichtslos und so ihrer Individualität entrückt. Vielmehr kommt es ihr darauf an, sie in eine atmosphärisch dichte und farbakzentuierte Gesamtstimmung zu tauchen. Diese Kompositionen wirken impressionistisch-vage, verbleiben bewusst im Ungefähren des arrangierten Raumes. Die menschliche Figur erscheint hier eher wie das dominierende Accessoire eines farblich durchempfundenen, klanglichen Bildraumes.Bei Anne Lepinski hingegen ist es eher umgekehrt: Die Figur dominiert den Raum und kommt in ihrer Individualität stärker zur Geltung. Die Begegnung mit dem Modell wirkt hier direkter. In den bevorzugt mit Pastell, Tusche oder Kohle entstandenen Studien treten die schärfer konturierten Modelle gleichsam psychologisierend-porträthaft hervor und haben buchstäblich ein Gesicht. Die Farbigkeit des sparsam strukturierten Bildraumes tritt zumeist in den Hintergrund und wirkt eher komplementär.

Die Akryl-Bilder von Tatiana Burghenn zeugen von einem Bekenntnis zur Verwundbarkeit des Menschen. Hier schimmert möglicherweise eine gewisse spirituelle Prägung durch. Diese Prägung wurde geweckt – oder bestärkt –, als sie sich vor mehr als zehn Jahren mit Geist und Technik der sakralen byzantinischen Malerei und der Vergoldungstechnik befasste, und zwar an berufenem Orte, nämlich im Kloster der Rumänischen Orthodoxen Metropolie in Nürnberg. Eigenem Bekunden nach sucht sie in der Aktmalerei ein „kontrastierendes und ergänzendes Gleichgewicht zur transzendierenden Wirklichkeit in der Ikonenmalerei“.

Sind die Bilder von Anna Lepinski deshalb nüchterner, prosaischer, unreflektierter? Ich denke nicht. In den Posen ihrer Figuren, die an Gabriele Mucchis „Aktporträts“ erinnern, kann man unschwer auch Anzeichen von Introvertiertheit, Nachdenklichkeit oder gar Melancholie erkennen. Die Vermutung wird bestätigt durch die Titelwahl wie „Nachsinnen“, „Abwendung“, „Verschlossen“, „Ausruhen“, „Ratlosigkeit“, „Entrückt“ usw. Bei allen Unterschieden in den Befindlichkeiten, Sichtweisen, Antrieben und Techniken usw. ist, so gesehen, das Herangehen beider Künstlerinnen an ihren Gegenstand wiederum sehr ähnlich. Daher, so denke ich, dürften Anna Lepinskis Arbeiten, gerade weil sie mehr psychologisieren als die von Tatiana Burghenn, nicht weniger eine lyrische Dimension ihrer Darstellungen des nackten Körpers beanspruchen, wenn auch in anderer Hinsicht.

Die Aktmalerei hat ja nun besonders in ihrer postsakralen Phase der klassischen Moderne vielfältige Wandlungen erfahren. Fast immer sind deren Schöpfer jedoch Männer. Was macht dann nun den Unterschied aus zur „weiblichen Aktmalerei“, vor allem wenn auch sie bevorzugt den weiblichen Körper zum Gegenstand hat? Sind die Bilder weniger voyeuristisch? Fehlt ihnen das erotische Kalkül, das man unwillkürlich den männlichen Aktmalern unterstellt? Sind sie eher der Ausdruck einer weiblich-selbstbewussten körperlichen Selbstwahrnehmung? Die Beantwortung dieser Fragen sei einer anderen Ausstellung überlassen, vielleicht mit dem Thema: „Der männliche Akt - von Frauen gemalt...“

bis 15.5. – Studio Bildende Kunst

John-Sieg-Straße 13, 10365 Berlin

Tel.: 553 22 76, sbk@kulturring.org, geöffnet: Mo bis Do 10-20 Uhr, Fr 10-18 Uhr, Sa 14-18 Uhr

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