„Erkenne dich selbst“

Dr. Aline Vater

Diese Worte waren in die Mauer der Vorhalle des Tempels in Delphi eingeschrieben, an dem Ödipus die Wahrsagung eines Orakels erhielt. Ödipus blieb die Selbsterkenntnis verwehrt: Er floh aus Angst, sein wahres Selbst zu erkennen, aus der Stadt, in der er aufgewachsen war. In Anlehnung an diesen Mythos soll in der Gruppenausstellung „Delphi“ diskutiert werden, was es heißt, sich selbst zu erkennen.

Giampiero Assumma, ein Fotograf aus Neapel, hat über den Zeitraum von mehreren Jahren in einer von sechs Psychiatrien in Italien Kriminelle portraitiert. Seine Serie „The Lower World“ skizziert ein archaisches und poetisches Bild einer Dimension psychischer Erkrankungen. Der Fotograf hinterfragt damit nicht nur den Umgang mit psychisch kranken Insassen in Italien, sondern möchte mit visuellen Mitteln erkunden, was wir unter Wahnsinn verstehen.

Sander Marsman dokumentiert das Leben der transsexuellen Dianna. „Every day is dressed up“ lautet der Buchtitel (ein Zitat von Dianna), der den Prozess der Geschlechtertransformation treffend beschreibt. In Sander Marsmans Projekt geht es nicht nur um die Geschichte eines transsexuellen Menschen, sondern auch darum, inwieweit Gesellschaften Individualität und Ausdruck eigener Identität fernab der Norm tolerieren und akzeptieren.

Marit Beer ist eine Fotografin, die sich mit den Innenansichten der menschlichen Psyche beschäftigt und bestrebt ist, nicht greifbare Persönlichkeitsanteile mit fotografischen Mitteln zu erfassen. In ihrer Serie „Metamorphosen“ begleitet und dokumentiert sie die Verwandlung von Personen in übermenschliche, naturgleiche Wesen. Die Serie Metamorphosen impliziert, dass es Teilaspekte jeder Person gibt, die nicht durch Worte beschrieben werden können. Das heißt auch, dass Aspekte des Selbst verborgen bleiben, solange man nicht offen ist, ihnen Gehör zu verschaffen. Nur durch ein gewisses Maß an Selbstreflexivität werden Metamorphosen, d.h. eine Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen, möglich.

Die Serie „Berlin Beauty“ von Petrov Ahner diskutiert, welche Rolle der Lebensraum Berlin bei der Ausprägung von Persönlichkeit spielt. Berlin birgt mehr als jede andere Stadt im deutschen Sprachraum Gelegenheit zur Selbstentfaltung. Daher stellt die Serie „Berlin Beauty“ ein Beispiel dar, inwieweit Menschen sich vor dem Hintergrund einer gewissen Stadtkulisse anpassen und verändern. Vor diesem Hintergrund sucht Petrov Ahner nicht nach konservativen und festgelegten „Postkartenschönheiten”, sondern erkundet Gesichter der freien, kreativen Szene seiner Wahlstadt Berlin, die geprägt durch die Gegensätze lebendig wird und ein unkonventionelles und unprätentiöses Selbstbild formt. Ergänzt werden die Portraits durch Aussagen der Portraitierten.

Kat Kapo verbindet Kabinettkartenportraits aus dem 19. Jahrhundert mit malerischen Elementen. Sie konfrontiert den Betrachter mit der Vergänglichkeit der Fotografie als Mittel zur Bewahrung von Identität und Erinnerung. Durch die Veränderung der Kabinettkartenporträts mit malerischen Mitteln wird die Identität des Portraitierten verborgen und umgedeutet.

Ziel der Ausstellung „Delphi“ in der Fotogalerie Friedrichshain ist es, Fragen nach dem „Wer bin ich?“, „Wer bin ich durch Andere?“ und „Welche Auswirkungen hat es, wenn ich mich verändere?“ aus fünf verschiedenen Positionen zu beantworten. Die Ausstellungsbesucher werden eingeladen, über eigene Selbstbilder, die Bedeutung des Anderen bei der Ausprägung des Selbstbildes sowie Möglichkeiten zur Selbsttransformation nachzudenken.

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