Ein Erlebnis und ein Traum

Dr. Gerhard Schewe

Ich hatte ein Erlebnis. Ich erlebte, wie junge Menschen den Namensgeber ihrer Schule ehrten, indem sie sein geistiges Vermächtnis zu ihrer eigenen Sache machten und damit – ganz in seinem Sinn – an die Öffentlichkeit traten: mit einem künstlerischen Programm zum Thema Nazismus, Krieg, Judenverfolgung auf der einen, Verantwortung, Widerstand, Zivilcourage auf der anderen Seite.

Die Rede ist von der Erich-Fried-Gesamtschule in Herne, so benannt nach dem 1988 verstorbenen österreichisch-jüdischen Schriftsteller, der – selber ein Opfer von Unrecht, Gewalt und Hass – nie aufhörte, gerade diese Ausdrucksformen wieder aufgelebten Ungeists beim richtigen Namen zu nennen. Das hat sein gesamtes Werk geprägt, die bekannten „Liebesgedichte“ eingeschlossen. Fried hat dem deutschsprachigen Gedicht nach 1945, wie es sein Verleger Klaus Wagenbach formulierte, „die politische Würde, den kritischen Zweifel und die Kraft der Erinnerung“ zurückgegeben.

Das Programm mit Liedern, Texten, Filmen, Spielszenen war der Beitrag der Landesvertretung Nordrhein-Westfalens zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Und es war dem Anlass angemessen: bewegend, verstörend, aber auch ermutigend. Zu wiederholten Malen stockte einem der Atem, und statt zu applaudieren, verharrte das Publikum in betroffenem Schweigen: beim „Lied der Moorsoldaten“, bei den „Herner Kindern der Shoa“, bei der Thematisierung von Schuld und Verantwortung in „Seht her auf eure Schande!“

Nach diesem Abend hatte ich einen Traum. Ich träumte, es gäbe so etwas auch in Berlin. Ich träumte, die Bertha-von-Suttner Schule würde ihr „Nie wieder Krieg!“ in die Stadt hinausschreien, die Carl-von-Ossietzky-Schule ein Kolloquium zur Wirkungsgeschichte der legendären „Weltbühne“ durchführen, die Kant-Schule zum Disput über „Bildung, Vernunft, Mündigkeit heute“ aufrufen, die Goethe Schule – ganz aktuell – eine Matinee zum „West-östlichen Divan“ veranstalten. Dann wachte ich auf und wartete: Doch ich hörte nicht den Schrei, sah nicht das Kolloquium, nicht den Disput oder die Matinee.

Aus der Traum also? Resignation hätte Fried bestimmt missbilligt. Für seine Träume müsse man schon kämpfen, hätte er gesagt, und zwar dringlich, „weil die Welt nicht bleibt, wenn sie so bleibt, wie sie ist“. Diese Mahnung richtete er an jedermann, im besonderen aber natürlich an die Jungen, die einst die Verantwortung für dieses Bleiben oder Nicht-Bleiben zu tragen haben. Eine solche Rolle muss aber gelernt, erprobt, verinnerlicht werden, und wie könnte das besser geschehen als im Mitmachen an schulischen Projekten. Insofern könnte man es nur begrüßen, wenn das Beispiel der Schule aus dem Ruhrgebiet Schule machen würde, hundertfach und überall. Oder gerate ich da schon wieder ins Träumen?

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