Die Kunst der Nächstenliebe

Ingrid Landmesser

„Hauswald musste mal her“, sagt uns die Leiterin der traditionsreichen Fotogalerie Friedrichshain, Astrid Lehmann, und lobt die unkomplizierte Zusammenarbeit mit ihm. „Querbeet – zum Sechzigsten“ war das Motto zur Jubiläumsausstellung im Mai 2014. Harald Hauswald hatte auch in den 1970er und 1980er Jahren den Alltag in diakonischen Einrichtungen dokumentiert. Von mehreren Fotografen gibt es im Buch „Porträts der in den Häusern betreuten Menschen mit Behinderungen oder alten, pflegebedürftigen Personen und der oft aufopferungsvollen Mitarbeiter, die von Würde und menschlicher Zuneigung erzählen.“ (Lukas Verlag) Seit einigen Jahren dokumentiere ich mit der Kamera im St. Elisabeth-Stift, Stephanus Wohnen und Pflege, in Gemeinschaftsarbeit mit Bewohnern und Mitarbeitern, Angehörigen und Ehrenamtlern den Alltag im Heim. Wir stellen Sehenswertes der Umgebung vor, halten besondere Ereignisse oder Veranstaltungen fest. Beim Schneiden und Zusammenstellen der Szenen mache ich erstaunliche Entdeckungen, die wir uns teilen in kleinen oder auch großen „Filmgesprächen“ und die uns zu fast familiären Vertrauten machen. Ein Vorteil, den Langzeitbeschäftigung in Pflegeeinrichtungen bringt: Vertrauensverhältnisse! Meinen Schnittplatz habe ich beim Kulturring in Pankow, im Medienpoint mit seinem reichen, kulturellen Kapital. Bei den gut funktionierenden Beziehungen zwischen beiden Einrichtungen lag es nahe, die Hauswald-Ausstellung mit Interessierten von Stift und Kulturring in einer „Extraführung“ zu besuchen, zumal die Galerie auch für Rollstuhlfahrer verkehrsgünstig zu erreichen ist. Zur Bestätigung des „Kleine-Welt-Phänomens“ treffen sich bei diesem Besuch der Galerie ehemalige Kollegen aus dem Institut für Romanistik der Humboldt-Universität: Der Vorstandvorsitzende des Kulturrings, Dr. Schewe, und Frau Dr. Burkart vom Bewohnerbeirat des Stifts. Seither bekommt Frau Dr. Burkart nicht nur die „Kultur-News“ als Lesestoff.

Menschliche Begegnungen sind der Kern des Lebens, schreibt Einrichtungsleiterin Frau Roswitha Albrecht in ihren Erläuterungen zur Jahreslosung 2015. „Soziale Kontakte knüpfen und pflegen, anderen helfen – das sind die wichtigsten Motive unserer Mitarbeiter für ihr Engagement.“ Engagement ist soziales Kapital. Es ist mit der „Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen, gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden“. Kapitalausstattung definiert unsere Position in der Gesellschaft. Immaterielle Werte, wie Ethik und Moral, sind da leider nicht gleichgewichtig zum Finanzkapital. Diese Art der „Gewinnmaximierung“ wird weniger geschätzt. Am 04. Juli 2014 hatte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe bei strahlendem Sonnenschein die Pflegeeinrichtung besucht und versprach im blühenden Garten des St. Elisabeth-Stifts: „Wir sorgen dafür, dass notwendige Leistungsverbesserungen jetzt schnell bei den Menschen ankommen.“ Als Filmemacher hätte ich mir „traurigen Regen“ gewünscht, um quasi metaphorisch mehr Empathie für die allgemeine Situation in der Pflege wecken zu können. In der Süddeutschen Zeitung vom 4. Februar sprach der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn über das „schwierige Gesundheitswesen und die Missstände in der Pflege“. „Mitunter wird mehr blockiert als gestaltet,“ steht da geschrieben. Der enorme bürokratische Aufwand ist bei den Pflegekräften zu Recht verhasst. Jeden Tag müssen sie unendliche Dokumentationen ausfüllen für ein unbrauchbares Nonsens- Ergebnis.Selten werden von uns die positiven Dinge im Alltag wahrgenommen. Pflegerischen Alltag filme ich nicht, aber ich weiß, wie viel Anstrengung, Kompetenz, Berufserfahrung, Empathie und körperlicher Einsatz dafür erforderlich ist. Einen Menschen zum Essen und Trinken zu bewegen, der müde und lustlos ist, allein das erfordert schon besondere Begabung in der „Kunst der Nächstenliebe“. Wöchentliche Veranstaltungen, wie Backen, Handarbeit, Malen, Basteln, Rhythmus und Bewegung, sind allerdings für manche Bewohner schon liebgewordene Gewohnheiten. Für themenbezogene Beschäftigungsstunden werden Mitarbeiter des Stifts mit Literatur, Bildbänden und Musik aus dem „kulturellen Kapital“ des nahen Medienpoints des Kulturrings in der Senefelderstraße unterstützt. Bücheraustausch ist sinnvoll. Gabriele Otto vom Medienpoint nimmt gern persönliche Wünsche in Sachen Literatur entgegen. In ihrer Freizeit arbeitet sie ehrenamtlich im Stift. Mit dem „fremden Blick“ begeistert sie sich an den nicht selbstverständlichen persönlichen Einsätzen und Aufwendungen von Mitarbeitern, Angehörigen, Ruheständlern, Ehrenamtlichen und anderen kooperativen Partnern des Stifts. Frau Otto war dabei, als Pfarrer Spree, Ruheständler und ehemaliger Heimleiter, mit Lichtbildern erzählt, wie es früher war, als „die Alten“ ins Heim kamen, weil sie die Kohlen nicht mehr in den 5. Stock ihrer Wohnung tragen konnten. Demenz war damals weniger das Problem. Dass auch gemeinsames Lieblingslieder-Singen mit Menschen mit „Honig im Kopf“, wie in einem Filmtitel kindliche Phantasie die Demenz beschreibt, Spaß macht, hat uns die Klasse 3b der Koppenschule wissen lassen: mit rührenden Briefen und Zeichnungen, die Bewohner und Kulturring gleichermaßen gefreut haben. Und dann erlebte ich die Vorführung von Erinnerungs-DVDs, ein Jahr später. Unvergessliche Entschädigung für viele Arbeitsmühen. „Nehmt einander an …“ heißt die Videoaufzeichnung vom „Heiligen Abend“ in der Kapelle des St. Elisabeth-Stifts, den Mitarbeiter, Angehörige von Bewohnern und Mitglieder von „Sant‘ Egidio“ gestalteten. Es gibt mehr als 200 DVDs, die Geschichte und Geschichten rund um das St. Elisabeth-Stift quasi als Poesiealbum dokumentieren. Gemeinsame, vergnügliche Erinnerungen an Esel Hugo vom Tierhof Marzahn und den damaligen Besuch des benachbarten Hirschhof-Kindergartens haben wir uns kürzlich erst angesehen. Bei Stephan Scholz, seit kurzem Bewohner in der Jungen Pflege, haben mir zwei Bilder in seinem Zimmer Talent und seine Liebe zur Malerei verraten. Grund genug, mit ihm gemeinsam den Besuch der Paul-Klee-Ausstellung im MachMit! Museum vorzubereiten. Von dort ist es nicht weit bis zum Medienpoint des Kulturrings. Ich erhoffe mir Zusammenarbeit später beim Schnitt, denn wie erkannte ein Bewohner kürzlich nach einer Filmvorführung: „Da steckt bestimmt viel Arbeit dahinter“. Ich gebe das weiter an die Mitarbeiter des St. Elisabeth-Stifts. Jede Art von „Achtsamkeit“ ist wirksam für das Empfinden der eigenen seelisch-sozialen Situation, besonders im Heim. Durch ein hohes Engagement im Beruf und große Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter wurde das St. Elisabeth-Stift schon mehrmals mit dem grünen Haken für Verbraucherfreundlichkeit ausgezeichnet.

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