Zwei Pakete vom Zuckerhut

Astrid Lehman / Bernhard Korte

Die Überraschung war groß bei den Mitarbeitern des Medienpoints Pankow, als ihnen im Oktober eine Aufforderung zur Abholung von zwei großen Paketen beim Deutschen Zoll in Schöneberg erreichte. Bald folgte eine gewisse Ratlosigkeit: Müssen wir jetzt etwa Zoll zahlen? Was kommt da auf uns zu? Als Absender erkannten sie einen deutsch klingenden Namen, Paula Ellinger. Beide Pakete, zusammen fast 50 Kilogramm schwer, waren Mitte September im fernen Jardim Botânico, knapp 25 Kilometer von der brasilianischen Hauptstadt Rio de Janeiro entfernt, durch jene Paula Ellinger auf den Weg nach Deutschland geschickt worden. Keiner der Mitarbeiter des Medienpoints hatte jemals etwas von Frau Ellinger gehört oder konnte sich vorstellen, warum man gebrauchte Bücher, denn so lautete die Angabe des Paketinhaltes, für viel Geld (fast 110 €) auf eine so weite Reise schickt.

Wie häufig im Leben bringen solch kleine Änderungen des „Tagesgeschäfts“ nicht nur Abwechslung in die Abläufe, sondern fördern interessante Geschichten ans Tageslicht - Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Diese spezielle offerierte sich erst, als die Pakete vom Zollamt Schöneberg abgeholt waren (zum Glück niemand etwas zahlen musste), und dann gemeinsam im Medienpoint unter den Augen vieler Mitarbeiter geöffnet wurden. In jedem der zwei Pakete war ein am Computer geschriebener Brief von Paula Ellinger, der alles erklärte.

Paula Ellinger war 2013 auf Grund einer privaten Recherche zu ihrer eigenen Familiengeschichte im Prenzlauer Berg in Berlin unterwegs. Hier lebte bis 1937 ihre Großmutter, Käthe Bertha Ellinger (geb. Juliusburger), als junge Frau in der Senefelderstraße 30. Wegen der damaligen Machtergreifung von Adolf Hitler wanderte die gesamte Familie von Deutschland nach Brasilien aus.

Während ihrer Recherche im Umfeld der ehemaligen Familienwohnung entdeckte sie damals auch den Medienpoint Pankow. Hier wurde Paula Ellinger von den Mitarbeitern sehr freundlich begrüßt und erfuhr von diesen, dass alle Bücher vor Ort private Spenden von Bürgern der Stadt sind, die kostenlos wieder an Menschen mit geringem Einkommen abgegeben werden. Beim begeisterten Durchstöbern des Bücherbestandes gefiel ihr ein kleiner Gedichtband besonders gut, und sie war freudig überrascht, dass auch sie dieses Buch einfach so, kostenfrei, mit nach Brasilien nehmen durfte.

Auf dem Heimweg nach Brasilien und später zu Hause vor Ort in Rio de Janeiro erzählte sie über das Gesehene und Erlebte in dem veränderten Berlin und über die freundliche Aufnahme durch die Mitarbeiter. Dabei erinnerte sie sich auch gemeinsam mit ihrer Mutter Vivian Ellinger an den deutschen Bücherschatz ihrer Großmutter, der ungenutzt in der Wohnung lagerte. Selbst konnten sie diese Bücher kaum verwenden, da sie alle schon in Brasilien geboren und mit der Amtssprache Portugiesisch aufgewachsen sind. So fassten sie den Entschluss, diesem Laden „Medienpoint Pankow“ in der Senefelderstraße, Ecke Hiddenseestraße, den kleinen Schatz der Großmutter zukommen zu lassen, egal was es kostet.

Da uns die geschriebenen Zeilen von Paula und Vivian Ellinger zutiefst berührten, haben wir sie angemailt, uns natürlich herzlich für die große Überraschung bedankt und sie gebeten, uns noch mehr aus dem Leben ihrer Großmutter und Mutter, Käthe Bertha Ellinger, zu erzählen. Es entstand ein herzlicher Mailverkehr. Hocherfreut schrieben sie uns diese Zeilen:

„Meine Großmutter wurde in Breslau geboren, der Vater war Schneider, die Mutter Hausfrau. Ihre Kindheit und Jugend verlebte sie in Berlin. Sie musste sich vor dem 2. Weltkrieg entschließen, ihre Heimat, ihre Liebe, die geliebte Großmutter, ihre Erlebnisse und ihre Jugendfreunde zu verlassen und kam - um ihre Zukunft zu gestalten - nach Brasilien. Hier lernte Käthe Portugiesisch, arbeitete, um ihre Familie am Leben zu halten. Sie besuchte die Treffen der deutschsprachigen Immigranten-Kolonie, wo sie ihren Mann kennenlernte. Mit 36 Jahren, als Mutter einer neugeborenen Tochter, begann sie, alle Fächer zu lernen, die in Brasilien nötig waren, um an der Universität aufgenommen zu werden. Dort begann Käthe das Studium der Medizin, das sie mit 41 Jahren erfolgreich absolvierte. Nach den Fächern Gynäkologie und Geburtshilfe kam noch die Psychiatrie dazu, und bis zum Schluss bewahrte sie das Interesse am menschlichen Körper und an dessen Psyche. Käthe liebte das Wissen, die Bildung. Sie war bis zu ihrem letzten Tag hellwach und bewusst. Sie sprach fließend vier Sprachen, las täglich. Die Tierwelt und die wissenschaftlichen Errungenschaften interessierten sie stets. Sie bewies ihren Freunden und ihren geliebten Menschen ihre Zuneigung, indem sie ihnen interessante, weltorientierte Zeitungsausschnitte zukommen ließ. Den Lauf des Lebens verstand sie. An ihrem Nachtkästchen gab es eine Tafel, auf der stand: Gott möge mir die Gelassenheit geben, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, wo es möglich ist, die Weisheit, die Dinge unterscheiden zu können. Mit weit über 90 Jahren versuchte sie, die Welt von heute zu verstehen, wollte mit dem Computer umgehen können und versäumte es nicht, spazieren zu gehen und Wassergymnastik zu betreiben. Was sicher ist: Ohne Lesen konnte sie nicht leben. Sie hatte Zeitungs- und Zeitschriftenabos und half sich beim Lesen mit einer Lupe. Ihre Bücher und Zeitungsausschnitte waren etwas ganz Besonderes...“

Im letzten Satz des Begleitbriefes ihrer Bücherspende schreiben Paula und Vivian Ellinger sinngemäß: „Die Bücher sind zwar sehr alt und wir wissen nicht ob Sie diese noch verwenden können, aber wir sind uns gewiss, dass Sie am besten bestimmen können, wofür man sie noch nutzen kann.“

Vieles erzählt uns diese kleine (un)spektakuläre Geschichte, zeigt uns, wie klein die Welt geworden ist, wie wichtig und berührend menschliche Kontakte sind und wie sehr die soziale Arbeit in unseren Medienpoints geschätzt wird.

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